___23. August 2024
 

~ Ein gewiefter Streich ~

In der Küstenprovinz Mikawa lebte einst ein Bauer mit dem einfachen Namen Kō. Er gehörte zu den fleißigen Menschen, die ihre Leben in Armut fristeten und schwer arbeiten mussten, um den Reis zu ernten, den sich die Reichen in Edo schmecken ließen. Aller Umstände zum Trotze trug Kō das Herz am rechten Fleck und war immer für seine Mitmenschen da. Nahe seines einfachen Nōka* befand sich ein kleiner Waldabschnitt, der aus Bäumen des Schwarzen Spitzenahorns bestand. Die dunklen Blätter dieses kleinen Waldgebiets ließen die Gegend in dichten Schatten eintauchen, der an heißen Sommertagen sicheren Schutz vor der Hitze bot und es des Nachts unmöglich war, die eigenen Hände vor dem Auge zu erkennen. Eines Mittags legte Kō eine Pause ein und stärkte sich an einfachen Reisbällchen, als ihm das äußerst seltsam anmutende Verhalten kleiner Shima Enaga ins Auge sprang. Diese kleinen Vögel sind kaum größer als ein Sperling, besitzen jedoch ein weißes Federkleid mit grauschwarzem Rücken und schwarze Schnäbel. Es sind gern gesehene, friedliebende Tiere, an deren Anblick sich auch Kō erfreut. An diesem Tag bereiteten ihm die Vögel allerdings Sorgen, denn sie liefen benommen auf dem Waldboden herum und fanden nicht die Kraft, ihre Flügel schwingen zu lassen und abzuheben, um sich in den Bäumen zu verstecken. »Was vermag das zu bedeuten?«, sprach Kō leise zu sich selbst und sah, wie die kleinen Shima Enaga einfach auf die Seite fielen und dort liegen blieben. Kō unterbrach sein Mahl und prüfte einige der Vögel, um festzustellen, dass sie nicht dem Tode geweiht waren. Vielmehr schliefen sie tief und fest und Kō wusste, die Vögel konnten nicht zu wenig getrunken haben, denn es gab einen großen Fluss in der Nähe, an dem sie sich stärken konnten. Kō wusste ebenso, wie unnatürlich ihr Verhalten war und so legte er sie an sicheren Orten nieder, wo sie nicht die Opfer von Feinden werden und später lebend wieder erwachen konnten. Er sah sich die Umgebung an, doch außer der heißen Sonne gab es zunächst nichts, was ihm auffällig erschien.
In den darauffolgenden Tagen beschloss er, seine Mittagspausen stets an der selben Stelle unter den Schwarzen Spitzenahornbäumen abzuhalten, um die Tiere weiter zu beobachten. Am Boden lebende Tiere verhielten sich ihrer Natur entsprechend, doch die Shima Enaga waren wiederkehrend benommen und wankten der Waldwege entlang, bis sie schlafend auf die Seite fielen. Kō begriff nicht, was es damit auf sich hatte und befürchtete, die Tiere könnten einer heimtückischen Krankheit zum Opfer gefallen sein. Aus welchem Grund waren die anderen Tiere aber nicht davon betroffen?
Gegen Abend saß Kō mit seiner Familie und anderen Bauern in einer großen Runde beisammen, in der sie ihr bescheidenes Abendmahl einnahmen. »Habt Ihr gehört, eines der Hühner von Bauer Takeshi wurde in der vorletzten Nacht gerissen. Jetzt verbringt er seine Zeit damit, einen stärkeren Schutzwall für seine Tiere zu bauen«, erklärte einer der Bauern. »In der letzten Nacht«, erklärte eine junge Bäuerin, »wurde das Ehepaar Date ausgeraubt! Sie besaßen eine geheime Kiste in einem Raum ihres Hauses, wo sie die wenigen Dinge von Wert aufbewahrten, die sie besaßen. Am heutigen Morgen war die Kiste geöffnet und ihr Inhalt entfernt.« Diese Ereignisse ließen die Bauern aufhorchen und sie beschlossen, ihre Häuser und Tiere in der Nacht von einigen Freiwilligen bewachen zu lassen.
Wenngleich sie Vorsicht walten ließen, wurde die Umgebung in den Tagen darauf erneut von Diebstählen und gerissenen Tieren heimgesucht. Kō überkam ein schrecklicher Verdacht, auch wenn ihm das Verhalten der kleinen Shima Enaga weiterhin ein Rätsel blieb. So beschloss er, in der kommenden Nacht durch den Wald zu patrouillieren.
Inmitten aus den dichten Blättern der Schwarzen Spitzenahornbäume hallten die mystischen Rufe der Ezo-Eule, die wir auch als Habichtskauz-japonica übersetzen können. Hätte man davon ausgehen müssen, ihr weiß-bräunliches Federkleid würde leicht erkennbar sein, so irrte man sich, denn das dunkle Geblätt der Bäume ließ noch nicht einmal die Mondstrahlen zum Waldboden durchdringen. Kō bewegte sich leisen Schrittes mithilfe einer kleinen Laterne durch das Areal, welche er in der rechten Hand hielt. Hellwach, mit gespitzten Ohren, schlich er über jeden einzelnen Pfad des Waldstückes entlang, der vom Schwarzen Spitzenahorn geschmückt war. Nach etwa einer Stunde, er war beinahe fertig mit der Erkundung des Gebiets, da vernahm Kō auffällige Geräusche in den höchstgelegenen Wipfeln der dunklen Bäume. Es mussten die ältesten Bäume gewesen sein, die den Ursprung des Schwarzen Spitzenahornwaldes darstellten und die etwa zehn Meter hoch waren. Unter diesen Bedingungen war es Kō unmöglich, etwas vom Waldboden aus zu erkennen, denn selbst am Tage war die Sicht in diesem Schattenwald äußerst begrenzt. Plötzlich fiel etwas neben ihm zu Boden; es war ein weiterer, kleiner Shima Enaga, der nun neben einem Baume lag und vor sich hin schnarchte. Schnarchte? Wahrhaftig, dieser kleine Vogel schlief so tief und fest, dass er schnarchte! Kō hätte nie in seinem Leben geglaubt, Vögel könnten schnarchen. Ein solch tiefer Schlaf konnte der Natur unmöglich entsprechen und so nahm der junge Bauer seinen Mut zusammen, um den Baum zu erklimmen.
Dieses Unterfangen stellte sich als sehr viel schwieriger heraus als gedacht, denn Kō ließ seine Laterne unten stehen und tastete sich langsam vorwärts. Zehn Meter eines Baumes zu erklimmen, und dazu des Nachts, wer würde sich dies bei klarem Verstand schon wagen? Nach etwa sechs Metern bemerkte Kō, sich über den danebengelegenen Baumspitzen zu befinden. Kurzum, er war endlich weit genug nach oben geklettert, damit ein Teil des herrlich strahlenden Mondlichts zu ihm hindurchdringen konnte. Die ältesten Bäume in diesem mystischen Wäldchen überragten ihre Naturgesellen um etwa vier Meter, wie Kō feststellte. Die Geräusche befanden sich nun weitere zwei Meter über ihm und er konnte ein großes, breites Baumhaus erkennen, in dem allerlei Getümmel zu herrschen schien. Beinahe versagten ihm die Kräfte, denn es war eine große Aufgabe für Kō, diesen riesigen Baum ohne weitere Hilfsmittel wie Seile zu erklimmen.
Endlich hatte er sein Ziel erreicht. An den Holzplanken des breiten Baumhauses fand Kō guten Halt und so zog er sich zu einem der Fenster hinauf. Als er durch jenes Fenster spähte, so traute er seinen Augen kaum: Dieses Baumhaus war eine Sake-Taverne, hinter deren Tresen ein gewiefter Fuchs stand und Reiswein an Tiere ausschenkte. »Na, kleiner Freund? Noch ein Schlückchen?«, fragte der Fuchs einen Shima Enaga, der bereitwillig zulangte. Den Sake servierte der Fuchs in hübsch verzierten, kleinen Schalen, die zum Zechen geradezu einluden. In einer Ecke saß ein volltrunkenes Eichhörnchen; Kō war entsetzt. »Bitteschön, kleiner Freund«, versetzte der Fuchs und fuhr fort, »nun erzähl´ mir doch mal, was Du in letzter Zeit so aufgeschnappt hast. Gibt es an der Provinzgrenze einen Bauernhof mit Tieren?« Bereitwillig trug ihm der kleine Vogel alles weiter, was er wusste. Dieser schlaue Fuchs, dachte Kō bei sich, verführte die Tiere zum Trinken, um ihnen wertvolle Informationen zu entlocken! Die Sakeschalen klirrten aneinander, denn der Fuchs hatte nicht wenig damit zu tun, den gefiederten und pelzigen Trunkenbolden einzuschenken. »Ich verstehe. Du sagst also, diese Familie sei sehr reich? Was besitzen sie?«, fragte der Fuchs das Eichhörnchen aus, welches dem Hochprozentigen restlos verfallen war. Lallend erwiderte es mit deutlichen Worten, so ehrlich ein gutherziges Geschöpf in betrunkener Verfassung nur sein konnte, was es wusste. Natürlich war so ein Eichhörnchen nicht weiter auffällig in einer stark bewaldeten Gegend und kein Mensch wäre je darauf gekommen, es würde sich für ihr Hab und Gut begeistern. Weder Eichhörnchen, noch Shima Enaga würden bei den Menschen größere Beachtung finden, mit Ausnahme von Kindern, welche sie niedlich fanden. Da sah Kō etwas genauer hin: Der Fuchs trug einen langen, schwarzen Umhang mit einem silbernen Talisman um seinen Hals. Er hatte ein hübsches Antlitz, wie es für Füchse üblich war, doch sein Charakter war verdorben und durchtrieben von hinterlistigsten Ränkereien. Als ein Windzug durch die Baumtaverne blies, wurden ganze vier Schwänze unter dem onyxschwarzen Umhang sichtbar, was für Kō nur eines zur Bedeutung haben konnte: Dieser Fuchs war ein Kitsune. Es heißt, je mehr Schwänze solch ein Fuchsgeist besitzt, desto mehr Erfahrung und Wissensreichtum besitzt er. Plötzlich wandte der Fuchs seine Blicke in die Richtung des Fensters, an dem sich Kō versteckt hielt. Er setzte seine feine Spürnase ein, denn er glaubte, er würde einen Menschen wittern. Der Fuchs ließ kurz von seiner zechenden Gefiederschaft ab und begab sich zum Fenster. Nach einem achtsamen Blick nach draußen konnte er nichts weiter feststellen, wenngleich er sich vollends sicher war, einen Menschen zu wittern. Zu Kō´s großem Glück hatte der Fuchs keine Zeit mehr, denn er musste weiter seine tierischen Gäste in alkoholische Höhenflüge versetzen, um ihnen weiteres Wissen über die von Menschen bewohnten Anwesen in der Provinz zu entlocken. Unter dem Baumhaus hing Kō, der beinahe abgerutscht wäre, denn er konnte sich nur im letzten Augenblick vor dem Fuchs verstecken. So machte er sich auf den Weg des Baumes hinab, was noch einmal viel Zeit in Anspruch nahm. Nachdem Kō endlich wieder festen Boden unter seinen Füßen hatte, sprach er: »So sieht das also aus, ein Kitsune hinterhältigster Natur. Warte ab, morgen kriege ich dich.«
Gesagt, getan. Nachdem es am Folgetag erneut Berichte über einen Diebstahl und gerissene Hühner auf einem Anwesen an der Provinzgrenze gab, legte sich Kō einige Ausrüstung bereit, damit er sich mit ihr bei Nachtanbruch auf den Weg machen konnte. Tagsüber ging er wie gewohnt seiner Arbeit nach, beendete sie jedoch etwas früher als sonst, um noch etwas Schlaf zu bekommen.
Die Nacht war heran und Kō begab sich auf den Weg zur hochgelegenen Sake-Taverne. Diesmal hatte er ein langes Seil und einige Haken dabei, um sicheren Halt bei der Erklimmung des Baumes zu finden. Zudem hatte er sich mit etwas Moos eingerieben, damit der Fuchs ihn nicht gleich wittern würde. Diese Idee wurde begünstigt, da es tagsüber leicht geregnet hatte. In seiner rechten Hand hielt Kō erneut seine Laterne und mit seiner Linken hielt er diesmal einen Gewehrgurt fest, der zu einem Tanegashima gehörte, einem Luntenschlossgewehr, das ihm sein Großvater für die Nachtpatrouille geliehen hatte. Ein wertvolles Stück für ärmliche Bauern, doch des Glückes sei Dank waren zu jener nächtlichen Stund´ keine Samurai anzutreffen, die ihm das Tanegashima im Namen der Regierung hätten abnehmen dürfen. Für sie gab es zu dieser Zeit nichts Interessantes in diesem Wald, was allerdings nicht auf Kō zutraf. Mit dem Gewehr über seiner Schulter, begab er sich ein zweites mal auf den großen Baum. Mit den Hilfsmitteln hatte er es einfacher, zumal er den Baum bereits gut kannte. Es klang, als würden sich einige Vögel miteinander streiten; der Sake musste ihnen bereits buchstäblich zu Kopf gestiegen sein. Nachdem er die Baumtaverne zügig erreicht hatte, zog sich Kō eine Stoffmaske über, denn er wusste um die List der Füchse und wollte verhindern, mit einem Zauberstaub in Berührung zu kommen oder diesen einzuatmen. Solch magische Mittel konnten viele unterschiedliche Wirkungen haben, welche Kō allesamt nicht probieren wollte. Er stellte sich vor die kleine Türe zur Baumtaverne und atmete einmal tief durch, denn er wusste, was von seinem Handeln abhing. Hätte er es seinen Mitmenschen berichtet und man wäre gemeinsam dorthin gegangen, hätte der Fuchs dieses Aufsehen sicher bemerkt und wäre getürmt. Kō wusste darum, und ohne länger zu zögern, öffnete er die Türe und trat freundlich ein. Die vielen Shima Enaga suchten sogleich das Weite, wenn sie im Fluge auch etwas wankten. »Potzblitz! Wen haben wir denn da?«, versetzte der Fuchs sogleich, »es erstaunt mich wohl, einem Menschen hier oben zu begegnen, und einen noch so seltsam gekleideten dazu.«
»Bitte entschuldigt mein Auftreten. Mein Name ist Kō.«

»Wie entzückend, man nennt mich Mankō, den wandernden Fuchswirt. Wie wäre es mit einem Schluck wohltuenden Sake, wenn unsere Namen schon so ähnlich klingen?«
»Ich lehne dankend ab, Herr Mankō. Ich möchte gleich zur Sache kommen: Ich bitte Sie, die Tiere nicht mehr mit Sake zu versorgen. Ihre Gesundheit leidet sehr unter dem Alkoholeinfluss, denn ihre kleinen Körper vertragen ihn sehr schlecht.«

»Das geht leider nicht«, erwiderte Mankō mit dem schwarzem Umhang, »sonst kann ich leider mein Geschäft nicht weiter betreiben.«
»Könnten Sie Ihr Geschäft nicht andernorts weiterführen?«
»Offen gestanden, wollte ich hier noch etwas verweilen. Sind Sie sicher, dass Sie keinen Sake wollen? Für Hartgesottene habe ich sogar Reisschnaps vorrätig.«

»Herr, ich weiß, wie Sie den Tieren in volltrunkenem Zustand Wissen entlocken, um die Menschen in der Provinz zu berauben und deren Tiere zu reißen. Es ist mir ein großes Anliegen, diese Zustände zu beenden, denn die Menschen in dieser Gegend besitzen ohnehin nicht viel.«
»Wenn sie nicht viel besitzen, können sie doch auch gleich teilen.«

»Wie bitte?«
»Oh, nichts! Herr Kō, Ihr Besuch ehrt mich, doch leider kann ich Ihrem Anliegen nicht entgegen kommen. Ich kann Sie aber einladen, eine Zeit lang in meinem bescheidenen Hause zu verweilen.«

»Haben Sie Dank, Herr Fuchs, doch ich lehne erneut ab und bitte Sie abermals darum, diesen Wald und diese Provinz zu verlassen.«
»Das geht nicht! Lesen Sie gern Bücher? Ich bin schon viel herumgekommen und könnte Ihnen Seeräubergeschichten oder einheimische Berichte über Begegnungen zwischen Menschen und Geistern überreichen, wenn Sie mich dafür im Gegenzug weiter meinen Geschäften nachgehen lassen.«
»Sprechen Sie etwa über Begegnungen wie unsere, Herr Kitsune?«
»Herr Mankō, bitte. Kitsune ist der Name unserer Art. Aber ja, Sie liegen richtig, es sind genau solche Berichte, die ich meine.«
»Herr Mankō, so kommen wir nicht weiter. Wenn Sie meiner Bitte nicht auf friedlichem Wege Folge leisten, so muss ich neue Überlegungen anstellen, unseren Konflikt zu lösen.«
»Welchen Konflikt? Ich sehe keinen Konflikt, jedenfalls nicht von meiner Seite. Da Sie nun allerdings wissen, welchem Volke ich angehöre, so seien Sie sich gewiss, dass ich nicht einfach zu vertreiben bin.«
Ein Augenblick der Stille verging. Nur der Ruf einer Zwergohreule aus einem benachbarten Wipfel störte die friedliche Nachtruhe. Da zog Kō sein Tanegashima und entzündete die Lunte, um es dem Fuchs direkt vor die Schnauze zu halten.

»Herr Mankō, ich unterschätze Sie keinesfalls. Ich bitte Sie abermals, diese Provinz zu verlassen oder ich werde Gebrauch von diesem Gewehr machen müssen. Glauben Sie mir wenn ich sage, dass ich nur ungern zu diesem Mittel greife.«
Im Angesicht dieser brennenden Lunte versetzte der Fuchs: »Glauben Sie nicht, ich hätte hinter meinem langen Tresen kein geeignetes Mittel für einen Gegenangriff?«
»Das glaube ich ganz sicher, doch was glauben Sie, wer von uns beiden schneller ist? Ich, der Sie bereits im Visier hat, oder Sie, der noch einen Griff zu seinem Ziel entfernt ist? Ich möchte wohl sagen, Sie wären ein wahrhaft wärmend Gewand für den Winter oder auch ein schmückender Bettvorleger.«
Diese Aussage gefiel dem Fuchs ganz und gar nicht. So gab er nach: »Ich gebe zu, Sie haben mich überzeugt. Ich halte Ihre Worte für gänzlich unfreundlich und unangemessen. Ich werde mein Gut zusammenräumen und die Provinz bei Tagesanbruch verlassen.«
»Wie nett, dass Sie das erbeutete Gut an die beraubten Menschen zurückgeben werden.«
»Also das kann ich ja nun wirklich nicht tu ---«
Da hob Kō das Gewehr noch etwas höher und hielt dem Fuchs die brennende Lunte direkt vor die Nase.
»Schon gut, schon gut«, beschwichtigte der Fuchs den Bauer, »Ich werde das Gut den Leuten vor die Türen legen. Ungehobelter Kerl.«
»Das zu hören stimmt mich glücklich«, sprach Kō, »doch bedenken Sie, wenn Sie morgen nicht verschwunden sind, so komme ich wieder.«

»Es wird kein Bedarf danach bestehen«, versicherte der Fuchs und machte eine begütigende Geste mit seinen Pfoten.
»Sodann, auf bald«, verabschiedete sich Kō. »Hoffentlich nicht«, sprach der Fuchs.
Am nächsten Morgen erfüllte eine außergewöhnlich friedliche Atmosphäre die Provinz Mikawa. Etwas müde und erschöpft, erhob sich Kō, denn die Arbeit rief nach ihm. Während seiner Pause allein im Wald des Schwarzen Spitzenahorns bemerkte er die letzten benommenen Vögel der vorangegangenen Nacht. Des Abends berichteten die Menschen in der Umgebung, sie hätten ihr gestohlenes Gut vor ihren Behausungen liegend vorgefunden. In den Tagen danach sah Kō keine betrunkenen Tiere mehr und alle benahmen sich wieder ihrer Natur entsprechend. Der Fuchs hatte Wort gehalten, freute sich Kō über seine große Tat. Fortan waren alle Tiere wieder normal und Ruhe kehrte in Mikawa ein.

Wer nun glaubt, dies sei das angemessene Ende für diese Geschichte, der irrt. Das Luntenschlossgewehr, mit dem Kō den Fuchs bedrohte, war nicht mehr aufzufinden. »Kō, was hast Du mit meinem Gewehr angestellt? Wo ist es?«, fragte ihn sein Großvater. Sie hatten alles abgesucht, doch es war verschwunden. »Mankō, dieser gewiefte Fuchs«, flüsterte Kō vor sich her. Während Mankō, der Fuchs mit dem schwarzen Umhang, mit dem Gewehr von Kō´s Großvater in die nächste Provinz zog, um dort eine neue Baumhaus-Taverne zu eröffnen, kassierte Kō fürchterliche Schelte von seinem Großvater.


*traditionelle Bauernhäuser aus Holz

 

___25. Februar 2022

~ Das O-bon-Laternenfest ~

In der Provinz Nagato, im letzten Jahr der Regentschaft des Kaisers Chōkei in der Muromachi-Zeit*, wurde wieder das O-bon zur Errettung der Seelen verstorbener Ahnen gefeiert. Viele Familien finden sich während der Festlichkeiten zusammen, um die Gräber ihrer Vorfahren zu besuchen und zu pflegen. Kesuke ward gerade siebzehn Jahre alt, als er sich mit seiner Familie auf einem idyllischen Pfade zu einem wunderschönen, langen Fluss befand, nachdem die Sonne bereits fast hinter dem Horizont versunken war. Er wie auch seine Eltern, seine ältere Schwester, seine zwei Tanten und drei Cousins liefen neben vielen anderen Familien her und trugen die schönsten Laternen, welche sie selbst verfertigten und bemalten. Zudem trugen sie kleine, eigens geschnitzte Holzboote bei sich, um die Laternen nach Ankunft am Ufer auf der kristallklaren Oberfläche des Flusses abzusetzen und die Zusammenkunft mit ihren Ahnen zu zelebrieren, welche für eine kurze Zeit aus dem Jenseits ins Diesseits zurückkehrten. Die ersten Blätter fielen von den Bäumen, es raschelte unter den Geta der Menschen, da träumte Kesuke vor sich hin und bemerkte nicht einmal, wie er sich von den anderen entfernte. Seine Familie empfand dies nicht als ungewöhnlich; so erwarteten sie Kesuke´s Nachscheinen am Flusse. Als Kesuke sich wieder der Menschenschaft anzuschließen gedachte, vernahm er das Schimmern kleiner Laternen in der Ferne. Womöglich würden auch andere Gefahr laufen, sich im Walde zu verirren, dachte er bei sich. So ging er dem Schimmern nach. Es wurde dunkel, das Lichtermeer der Laternen zog in eine andere Richtung und Kesuke sah nur noch etwas dank des Lichtes seiner eigenen Laterne, die er vor sich her trug. Als er die Lichtung erreichte, aus welcher die Dämmerlichter in sein Auge traten, erblickte er ein weibliches Wesen in einem purpurnen Kimono, das ihm den Rücken zuwandte. Der Kimono wurde von einer großen, roten Schleife zusammengehalten. »Entschuldigt bitte, habt Ihr Euch verirrt? Benötigt Ihr Beistand?«, fragte Kesuke. Die Frau wandte sich ihm zu und er sah in eine Kitsune-Maske². Sie trug einen wunderschönen, roten Lampion bei sich, dessen Mitte von einer Kerze in farbenfrohes gelb getaucht ward. Sie näherte sich ihm mit bedächtigen Schritten und er fühlte, wie ihm die Knie erweichten. Zu gern wollte er wissen, wie sie wohl unter dieser Maske aussah, deutete ihr Erscheinungsbild doch auf edle Anmut hin. Aus nächster Nähe stellte er jedoch die mystische Bemalung der Kitsune-Maske fest, deren Augen und Innenohren in tiefem rot leuchteten. Er sinnierte über die weitere Umgangsform, welche er ihr gegenüber wohl walten lassen sollte. »Sprecht ruhig zu mir, habt keine Scheu. Ihr braucht Euch nicht zu fürchten«, versetzte Kesuke beflissen. Als die Frau vor ihm stand und stumm verblieb, beschloss Kesuke, sich wieder dem Laternenzug anzuschließen. Nachdem er sich umwandte, stand eine weitere Frau vor ihm, welche sich nicht von der anderen unterschied. Er sah beide an, als noch vier weitere Frauen in purpurnen Kimonos, mit Lampions in den Händen, erschienen und ihn einkreisten. Schleichend begannen sie, sich im Kreise zu bewegen. Dies Spiel wurde ihm zu mühselig, so nahm er einer Frau die Maske ab. Als er darunter kein Gesicht vernahm, fiel der Kimono in sich zusammen. Was übrig blieb, war ein Stoffteil und ein erloschener Lampion auf dem Waldboden. Er wiederholte diesen Vorgang mit vier weiteren Frauen, was stets zum selbigen Ergebnis führte. Die diabolischen Augen der Masken glühten unheilverkündend. Der Lampion der letzten Frau jedoch, er erhellte das Waldstück besonders klar. Sie nahm ihre Maske ab und lächelte: »Hat Euch mein kleines Spiel gefallen? Welch ein wunderbares Fest es doch heute wieder ist.« Ihr Lächeln ließ ihn in eine Traumwelt eintauchen; nie sah er in ein bestrickenderes Antlitz als das ihre. Zudem war sie üppig bestückt, das musste er sich wohl eingestehen. Würde er diese Gelegenheit säumen, so wäre er des Wahnsinns, ging ihm durch den Kopf. »Ja, ein wunderschönes Fest«, bestätigte er sie und fügte hinzu, »Ihr seid schön. Was macht ein Mädchen wie Ihr allein in einem solchen Teil des Waldes, wo doch die Sonne bereits untergegangen ist?«
»Ich möchte an den Feierlichkeiten teilnehmen, habe mich jedoch verlaufen. Des Glückes sei dank, Ihr habt mich gefunden.«
»Wie gelang Euch die Scharade mit den Kimonos? Niemand befand sich darunter, wie ist es nur möglich?«

Erst dann vernahm Kesuke die Ohren auf dem Haupte der Frau, die aus ihrer weißen Haarpracht herausstachen. Sein Auge schweifte sodann in Richtung des Waldbodens, wo er den Anblick des Schwanzes erhaschte, welcher unter ihrem Kimono hervor lugte. »Bin ich nicht schön? Wollt Ihr nicht bei mir bleiben?«, drang sie in ihn ein. »Ihr seid eine Füchsin. Meine Großeltern warnten mich vor Euch, als sie noch lebten«, gab Kesuke zu verstehen, als kurz darauf das Licht seiner Laterne einen Augenblick lang aufflammte. »Glaubt ihnen nicht, wir sind nicht alle von dunkler Gesinnung. Ihr werdet es sehen, wenn Ihr nur bleibt«, gedachte sie ihn zu verführen. »Ich bleibe bei meiner Familie«, gab Kesuke der Füchsin zur Antwort. »Bleibt!«, stieß sie alsogleich aus, bis ihre Augen wie Glut zu glimmen begannen. »Ich bleibe, wenn mein Hund mit uns gemeinsam leben kann. Er wartet im Hause der Familie auf meine Rückkehr. Ich habe hier noch sein Haar an meiner Kleidung.« Er wischte über seine Bekleidung, um das Haar zu entfernen. Sie verstummte, die Augen verloren das feuerrote Glimmen. »Habt Dank für die kleine Vorstellung«, bedankte sich Kesuke, »ich werde wieder zu meiner Familie wandern.« Schnellen Schrittes entfernte sich Kesuke, den mystischen, kühlen Atemhauch der Füchsin in seinem Nacken spürend. Späterhin langte er am Flusse an. »Kesuke, wir haben Dich vermisst«, gab sich seine Mutter besorgt. »Entschuldigung, das wird nicht wieder geschehen. Es ist alles in bester Ordnung«, beruhigte er seine Mutter. Er legte sein Holzboot ab, platzierte die Laterne darauf und ließ sie auf dem Wasser hinfort treiben, gemeinsam mit hunderten von Laternen, die den Wald erleuchten ließen. Kesuke spürte die Anwesenheit seiner Großeltern, die ihren Stolz ihm gegenüber zum Ausdruck brachten. Von ihnen erfuhr er nicht nur von den Kitsune, sondern auch das sie große Furcht vor Hunden besaßen. Welch Wissen von unschätzbarem Wert! Einen jenen Hund, den Kesuke in Wahrheit nicht besaß. Er wusste von dem Glück im Unglück, welches ihn einholte. Denn dieser Kitsune-Geist war gefährlich; nur seine List mit dem Hunde brachte ihm die Zeit ein, um die Füchsin in Verwirrung fallen zu lassen und entfliehen zu können. Ihre Aura wirkte bedrohlich, doch war sie noch unerfahren. Er grüßte seine Großeltern zum Danke, welche den Gruße freudig erwiderten, bis sie für weitere zwölf Monate ins Jenseits zurückkehrten.


*1383
² Traditionelle Maske eines Fuchsgeistes

Gefällt Euch diese Geschichte? Sie ist Teil einer zahlreichen Sammlung an ostasiatischen Geistergeschichten mit Fokus auf China und Japan, die bereits in meinen Büchern erschienen sind.
Zu dieser Geschichte gibt es eine Illustration. Diese und weitere könnt Ihr auf der Website von Mariella Fahr betrachten:
www.mariellafahr.com/marco-kelm-illustrationen


 

___01. Mai 2021

Verfasst von Marco Kelm für Jona Rosa, ´Joyabella´


~ Die Glasmurmelhändlerin ~

Es begab sich in der Zeit des Mittelalters, da lebte ein ärmlicher Herr zurückgezogen in seiner kleinen Holzhütte. Bescheiden ward er, besaß er als einfacher Klutenpedder nur wenige Gulden, doch reichte das Wenige aus um davon zu leben. Die Wächter ließen ihn stets passieren und durch die hohe, mit Türmen bestückte Stadtmauer zum Wochenmarkt gehen. Seine eigenen Erzeugnisse durfte er nur auf kleinen Märkten versetzen und da sein Grund von mittlerem Wert ward, baute er nur die ertragreichsten Güter an. In der Stadt suchte er demnach für sich selbst nach besonderen Früchten, nach Gemüse oder Arbeitsmitteln, die er andernorts nicht erstehen konnte. Voll Achtsamkeit schlenderte er über den Marktplatz, während er die respektlosen Stöße der anderen Menschen gegen seine Schultern gewohnt ignorierte, und bestaunte die Waren der Handelsleute. Neben verlockenden Süßwaren, die er sich weder leisten konnte, noch wegen seines Guldenbestandes wollte, gab es viele Gemüsehändler und gar einen Stand mit edlen Düften. Wer diesen Stand passierte, nahm die Düfte wider Willens wahr, denn sie flogen in alle Himmelsrichtungen. Doch der Herr kaufte die üblichen Lebensmittel die ihm schmeckten und freute sich, wenn noch Gulden übrig blieben. So machte er sich mit einem gut gefüllten Korb an Obst und Gemüse und kleinen Arbeitsmaterialien auf den Heimweg, während er durch eine enge Marktgasse lief, welche er sonst nie nutzte. In dieser Gasse ward es äußerst dünkelhaft und er stellte fest, Händler mit außergewöhnlichen Artefakten vorgefunden zu haben. Die Burgwände waren über feste, steinerne Brücken miteinander verbunden und ließen des Tages´ Licht nicht zu, sodass nur Fackeln genügend Sicht auf die wertvollen Dinge boten, um die sich die sonderbarsten Gestalten rankten. Die mystischen Händler, meist in Kutten gehüllt, handelten hohe Preise mit ihren Käufern aus. Je weiter er lief, desto größer wurden die Augen des Bauern, während er andächtig den zähen Verhandlungen der Leute lauschte. »Hier gibt es den einzigartigen Jadereif!«, hallte es aus einer Ecke, »Dieser Sonnenstein besitzt heilende Kräfte«!, hörte man aus einer anderen. Juwelenversetzte Skarabäen, Rubinherzen, Schakalstatuen - nie sah er solcherlei Schätze, noch wusste er etwas über deren Wirkung. Er näherte sich dem Ende der sagenhaften Gasse, als er einen Stand voller Perlen sah. Dahinter saß eine Dame, welche in Antlitz und Benehmen von allen anderen Händlern hervorzuheben ward. So winkte sie ihm bereits aus der Ferne zu; er bemerkte dies wohl, glaubte jedoch kaum, wirklich von ihr gemeint gewesen zu sein. Sein Atem stockte und kleine Schweißperlen bildeten sich auf seiner glatten Stirn. Es musste ihn wundernehmen, von ihr gemeint gewesen zu sein. »Komm´ doch her!«, rief sie ihm zu. Wie sollte er ihr erklären, sie würde ihre Zeit an ihm verschwenden, der nicht annähernd so viele Gulden besaß, welche dem Wert ihrer Perlen - oder waren es Murmeln - gleich kamen. »Sei nicht schüchtern, Du bist Willkommen geheißen«, gab sie ihm zu verstehen. »Habt Dank, edle Frau«, erwiderte er stotternd. Sie kicherte über seine beschämte Zurückhaltung. »Entschuldigt bitte vielmals, doch ich habe nicht - - -«, begann er den Satz, mit dem er sich aus der Situation herauszuwinden gedachte. Doch sie brachte ihm entgegen: »Wie findest Du meine Glasmurmeln? Es sind sehr viele, vielleicht gibt es auch eine für Dich unter ihnen?« Erst dann ließ er die Glasmurmeln auf sich wirken, welche in den schillerndsten Farben glänzten und diesen schattenhaften Ort in einen Hort der Ruhe und Glückseligkeit verwandelten. Jedes Stück einmalig, unterschieden sie sich in all ihren seltenen Farben, die ineinander überliefen, als wären sie in der Natur miteinander verschmolzen. Glitzerdurchwirkt, harmonierten sie in einer Farbsymphonie, die sie wie eigene, ferne Welten erscheinen ließen. »Wie entstehen diese Murmeln?«, fragte der Herr voll Zurückhaltung. »Mit großer Hingabe unter gleißendem Feuer«, erklärte sie und fügte hinzu, »jede Murmel ist aus besonderem Glas verfertigt und beinhaltet die Kraft der Feen und Waldgeister.« Dies beeindruckte ihn wahrlich, denn von dieserlei Geschöpfen hörte er oft. »Doch sah ich sie nie mit eigenen Augen«, brachte er ein. »Öffne Herz und Seele dafür und Du wirst sie sehen«, kicherte sie. In ihrer Stimme lag eine tiefe Überzeugung, so verspielt sie es ihm auch einprägte. Beeindruckt sah er auf, doch dann fiel ihm sogleich sein kleiner Geldbeutel ein. »Eure Werke sind freilich keine einfachen Glasmurmeln«, konstatierte er gewissenhaft, »sie sind Zauberperlen. Sie erleuchten diesen Ort, der sonst nur von den tanzenden Flammen des Fackelfeuers erhellt wird. Nie brächte ich den Reichtum auf, um ihn gegen Eure Schätze einzutauschen.« Die Dame, in kastanienbraunem Kleide und einer einprägsamen, üppigen Spitzmütze, studierte sein Auge genau. Fast ward es ihm, als hätte sie in seine Seele gesehen. Dann nahm sie die Glasmurmel, auf die sein Augenmerk seit Anbeginn seines Besuches an ihrem Stande lag, und hauchte: »Eines Tages begegnen wir uns erneut, dann kannst Du mir den Betrag für diese Murmel überreichen.«
»Verehrte Dame, nie werde ich die Gulden aufbringen können.«
»Du irrst, denn mit der Kraft der Feen wirst Du ein reicher Mann.«
Sein Ohr spielte ihm einen Streich, sagte sie etwa reich? Sie legte ihm die Glasmurmel an. »Reich?«, fragte er sogleich. »Auf bald!«, sprach sie lächelnd und schickte ihn auf den Heimweg. Außerhalb der Stadtmauern griff er wiederkehrend an die Glasmurmel, welche von nun an seinen Hals zierte, und glaubte kaum an jene Begebenheit, die ihm wie die Erfüllung allen Glückes erschien. Unter dem Sonnenglast in Augenschein genommen, schimmerte seine Glasperle im Blau des Meeres, im Grün der Wälder und im weißen Schnee der Berge, in dem sich ein Glitzerwirbel wiederfand. Tage später hielt er wieder selbst Markt, um Gemüse und etwas Obst unter die Hungrigen zu bringen. Eine Kundin brachte nicht nur seinen Erzeugnissen, sondern auch ihm Interesse entgegen. Eine schöne Dame, dachte er bei sich, doch wohl nur ein Traumgesicht an seiner Seite. Von dieser Zeit an besuchte sie ihn oftmals, bis er den Mut fand, sie anzusprechen. Ein Händler konnte doch keine Käuferin belästigen, das gehörte sich nicht! Doch allmählich begriff er, wie sehr sie ihm ihr Interesse bezeigte. Es kam zu einem ersten, langen Spaziergang, aus dem Liebe wurde. Ihr Hab und Gut ward größer als das Seine und gemeinsam gelang es ihnen nach einer glücklichen Trauung, ein ansehnliches Geschäft zu eröffnen. Bald sollte er Vater werden und seine mittelprächtige Gesundheit wurde vortrefflich. Er erlangte mehr Reichtum als er ausgeben konnte, weshalb er, im Einverständnis mit seiner Gesponsin, viele Gulden an die Armen verteilte oder Investitionen tätigte, die den Armen zugute kamen. Denn arm, so vergaß er nie, ward er einst auch. Die Dame mit den Glasmurmeln sah der Herr über Jahre nicht, so oft er den Wochenmarkt in der Stadt auch besuchte. Doch eines Tages, da stand sie wieder da, und in einem Rausch der Freude grüßte er sie, die ihn strahlend anlächelte. »Ich erkenne Dich kaum wieder«, gab sie staunend zu verstehen. »Ein wohlhabender Mann bin ich geworden«, erklärte er ihr. »Wohl Dank der vielen Gulden in Eurer Tasche?«, fragte sie ihn dann. »Nein, die Gulden sind nicht mein Reichtum. Mein Reichtum und mein Glück ist die Glasmurmel, die ich wohl doch als Zauberperle zu bezeichnen vermag, und das dankbare Geschick, Euch begegnet zu sein.« Sie lächelte bis über beide Wangen. Er gab ihr den Betrag, den er ihr bis zu jenem Tage schuldig ward, und erstand noch weitere jener Glasmurmeln für seine Frau und seiner kleinen Tochter, welche längst das Licht der Welt erblickt. In tiefer Dankbarkeit schloss er Freundschaft zu der Dame, welche ihm seit jeher das höchste Gut ward.


 

___03. Januar 2021

In Gedenken an Sophie Charlotte von Preußen anlässlich ihres 352. Geburtstages vom 30. Oktober 2020.


352 Jahr´

Der Tag Eurer Ehre ist heran, so lasset mich Eurer gedenken
Nicht klagend, doch erbötig, in ewiger Dankbarkeit

Euer lang vergangenes Ableben beweinen
Nein dies liegt nicht in Eurem Sinne, so auch nicht in meinem

Doch verdienet eine Seel´ von solcherlei Schicklichkeit und sanftgesetztem Wesen
So geistreich und wohlgesetzter Worte, eine kleine Oper zuinnerster Anerkennung

Fallet der Regen über dem Schlosse, so sind es Eurer silbern´ Tränen
Scheinet die Sonne, ist sie der Spiegel, durch ihn wir Eure Augen lachen sehen

Fallet der Schnee, so tanzet Ihr elegant wie die sanft zu Boden gleitenden Flocken
Wehen die Winde, tragen sie Euren lieblich´ Sang

Stürme es, so hören wir die Töne des Klaviers auf dem Ihr spielet
herrliches Klangspiel, vorgetragen von den Wipfeln der Bäume

Breitet ein Regenbogen sich aus über der Charlottenburg,
so haltet Ihr im Himmel Maskenball

Von Eurem Anmute umflossen, liebllich sinnend in Hochgefühlen schwelgend
Lustwandle ich immerfort auf den Pfaden der Vergangenheit

Euren behendigen Worten lauschend,
Euren ausgelassenen Saturnalien mit meinen Augen folgend
Entzünde ich eine Kerze, diese Euch zu den Wolken zu schicken

Auf ewig gesegnet sein mag Eure Seel´
Ewig brennen möge jene Kerze

Dreihundertzweiundfünfzig Jahr´
unvergessen, unsere Sophie Charlotte, erste Königin von Preußen