___05. November 2024
~ Kaikei auf dem Nachtmarkt der Tiere - Leseprobe ~
Nach einiger Zeit war die Sonne untergegangen und Kaikei sah sich gezwungen, eine Fackel zu entzünden, um den Weg weiterhin erkennen zu können. Dies war auch notwendig, um wilde Tiere auf Abstand zu halten. Es verging weitere Zeit, als die Gruppe die Befürchtung überkam, im Kreise zu wandern. »Waren wir nicht vorhin schon einmal hier auf dieser Lichtung?«, fragte Hiro zurecht. »Hier stimmt doch etwas nicht«, grübelte Kaikei. Auch Ran'ō rieb sich das Kinn und bemerkte: »Hört Ihr diese unbekannten Geräusche in der Ferne?« Kei wurde mulmig zumute. Zu gern hätte er zum Ausdruck gebracht, am Vorabend im Recht gelegen zu haben, als er darum bat, den Berg einen Tag später zu erklimmen. Da es dafür zu spät war und nicht hilfreich gewesen wäre, hielt er es für richtig, zu schweigen. Hiro las in den Augen seines Freundes und wusste nur zu genau, was darin stand. »Ich sage es ungern, doch wie es scheint, sind wir gefangen«, stellte Kaikei ruhig fest. Masami nickte, als ob ihr dies schon länger bewusst war. »Und was machen wir jetzt?«, bibberte Kei. »Wir suchen uns einen guten Platz für ein Lagerfeuer«, versetzte Ran'ō frohgemut, um die Stimmung etwas aufzuheitern. »Das ist eine gute Idee, mein Freund«, warf Kaikei ein und so gingen sie erneut des Weges entlang, um einen geeigneten Lagerplatz ausfindig zu machen. Kei´s Blicke gingen während dieser Zeit immer wieder nach oben in die dräuenden Wipfel der Buchen, welche einen Schattenmantel übergeworfen hatten, und die leuchtenden Augen des Nördlichen Kuckuckskauzes trafen ihn. Kei glaubte, einen Adler zu sehen, doch als Ran'ō ebenfalls nach oben sah und das Tier entdeckte, beruhigte er Kei und sagte, es wäre der Nördliche Kuckuckskauz. Das es sich dabei um einen starken Raubvogel handelte, verschwieg er dem verängstigten Jungen. Nach einer halben Stunde etwa, hat die Gruppe noch immer keinen geeigneten Lagerplatz finden können, da die Wege schmal und uneben waren und sich an keiner Stelle öffneten. Hiro blieb an einer Stelle unerwartet stehen und zog Kaikei an der Hand, um ihn auf eine ganz besondere Stelle aufmerksam zu machen.
»Onkel Kaikei, ich bin mir ganz sicher, dass dieser Weg hier zuvor nicht da gewesen ist.«
Hiro deutete auf eine von Efeu bedeckte Fläche, in der sich ein Weg gebildet hatte. Kaikei hob fragend die rechte Augenbraue und richtete seine Blicke auf Hiro.
»Das hast Du gut entdeckt, mein Neffe. Ich bin stolz auf Dich! Vielleicht bringt uns dieser neue Pfad aus diesem Labyrinth heraus.«
Das zu hören, erfreute Hiro sehr. Masami gefiel es nicht, den bisherigen Pfad zu verlassen und durch das Dickicht zu gehen. Wer weiß, ob nicht irgendwo eine Spinne darauf wartete, sich in ihrem Haar zu verfangen? Diesen Gedanken schnell verdrängt, ergriff sie die Hand ihres Mannes und hoffte, dieser verschlungene Efeu-Pfad würde sie zurück zur Herberge führen. Stattdessen gelangten sie auf einen von einer dicken Moosdecke überzogenen Waldpfad, welcher den bisher erkundeten Wegen in keinster Weise glich. Plötzlich zeigte Kei mit dem Zeigefinger geradeaus auf ein beleuchtetes Areal und rief: »Was ist das?« Wahrhaftig lag ein von mystischen Irrlichtern erleuchtetes Gebiet vor ihnen, aus dem vielerlei verschiedene Stimmen herausklangen, die ganz sicher nicht menschlichen Ursprungs waren. Kaikei atmete ganz tief ein; er wusste schon am Tage zuvor, das irgendetwas auf sie zukommen würde. Was immer dort vor ihnen lag, es war das, was Kaikei zuvor gespürt hatte. Insgeheim musste er Kei´s Achtsamkeit zusprechen. Was aber hinderte Kaikei daran, nicht auf Kei zu hören und einfach einen Tag länger mit der Erkundung des Berges zu warten? Weswegen hat Kaikei festgelegt, den Berg am Tage vor der Vollmondnacht zu besteigen? So ging der starke Mann mit seiner Fackel voran, hinter ihm Hiro, Masami, Kei und Ran'ō zum Schluss, um die Gruppe im Falle der Not von hinten zu verteidigen. Kaikei´s Schritte wurden bedächtiger. Er kniff die Augen zusammen und richtete seine Blicke weiter geradeaus. Eine Gänsehaut überkam ihn, was er selten erlebte, und dann begriff er, woher dies rührte: Von einer dunklen Robe eingehüllt, schritt eine mystische Wesenheit mit einem langen Wanderstab auf Kaikei zu. Er hielt die Fackel etwas nach unten, um zu erkennen, dass es sich um Tierpfoten handelte, welche über den Moosweg auf ihn zuschritten. Masami legte ihre Hände auf Hiro´s Schultern und bemerkte nicht, wie fest sie zudrückte. Hiro wollte keinen weichlichen Eindruck hinterlassen, weswegen er so tat, als würde er nichts bemerken, doch in Wahrheit war es ihm unangenehm, wie tief Masami ihre Fingernägel in seine Schultern bohrte, wenn auch unbeabsichtigt. Das Geschöpf trug eine Kapuze, wodurch Kaikei nicht sogleich erkennen konnte, um welche Art Wesenheit es sich handelte. Da entdeckte Kaikei unweit dahinter noch weitere solcher schemenhaften Gestalten, welche in seinen Augen durch den Wald patrouillierten. Als Kaikei seine Fackel wieder nach oben hob, erkannte er im Flackerschein das Antlitz eines Tanuki. Selten sah man Kaikei so verdutzt dreinschauen wie in jenem Augenblick, denn wenn er auch schon die Wege von allerlei Geistern und sprechenden Tieren in seinem Leben gekreuzt hatte, so war dieser Tanuki in Bekleidung eines Waldgottes auch für ihn etwas Erstaunliches. Der Tanuki schob seine Kapuze nach hinten, um den Menschen sein Antlitz zu präsentieren, und versetze: »Herzlich Willkommen, Fremde. Es kommt nicht oft vor, dass Menschen den Nachtmarkt besuchen wollen.«
»Eigentlich haben wir uns nur ---«, begann Kei, als Hiro ihm den Mund mit der rechten Hand bedeckte. Kaikei war seinem Neffen für dessen schnelle Handlung überaus dankbar und entgegnete dem Tanuki: »Auch wir grüßen Euch. Ein wohlgesonnener Tanuki auf Hokkaidō empfahl uns diesen Markt.«
»Ich verstehe. Ich gehöre zu den Wächtern des Marktes, zu deren Aufgaben es gehört, ungebetene Menschen, Tiere und Geister vom Markt fernzuhalten, welche sich als Diebe entpuppen könnten oder Schwierigkeiten verursachen wollen. Menschen betreten diesen Markt nur äußerst selten, weshalb Ihr von argwöhnischen Blicken ausgehen solltet. Ich kann keinerlei schlechte Absichten unter Euresgleichen erkennen und gestatte Euch deswegen Zutritt zum Nachtmarkt. Bitte beachtet, dass jegliche Gesetzte der Natur hier aufgehoben sind – alle sprechen dieselbe Sprache. Seid achtsam.«
Der Nachtmarkt der Tiere
»Habt Dank, edler Wächter«, versetzte Kaikei und verneigte sich leicht, ganz in der Manier eines wahren Sumōtori. Er gab den anderen ein Zeichen, ihm zu folgen und löschte kurzerhand die Fackel. Nur wenige Schritte später eröffnete sich den Menschen ein Bild, das sie niemals vergaßen: Ein gänzlich belebter Markt befand sich vor ihnen, an deren Ständen keine Menschen, sondern Tiere Handel miteinander betrieben. Hiro und Kei machten große Augen und selbst Masami konnte ihre edle Haltung kaum bewahren, denn es waren nicht nur Tiere hinter den Ständen, sondern auch tierische Käufer aller Art. Wild feilschten sie mit den Händlern, welche sich nicht ins Bockshorn jagen ließen. Einige der Stände besaßen Blätterdächer, andere bestanden aus kleinen, stabilen Bambushütten. Erst dann begriff Kaikei, was er oben auf dem Berg Shirakami verspürte, während er auf den Wald herab sah; es waren die Tiere, die ihre Hütten und Stände für den Nachtmarkt aufbauten. Wenn er dasselbe spürte wie einst der Inhaber der Herberge, so dachte Kaikei, dann musste es diesen Nachtmarkt der Tiere schon sehr lange gegeben haben. Vielleicht war es eine uralte Tradition in dieser Gegend? Die Tanuki-Wächter, welche um das Areal patrouillierten, mussten die Fähigkeit besitzen, die Struktur des Waldes zu verändern. Anders konnte Kaikei es sich nicht erklären, weshalb er mit seiner Gruppe plötzlich nur noch im Kreise wanderte. Dies musste eine Form von Magie sein, um die meisten Menschen vom Markt fernzuhalten, denn sonst wäre die Existenz des Marktes unter den Menschen nicht nur bekannt, sondern womöglich auch gefährdet gewesen. Der Mensch neigt in seiner Habgier zumeist dazu, etwas zu zerstören, was für ihn von Nutzen sein oder was ihm ungeheuerlich vorkommt. Kaikei begriff, welche Ehre die Erlaubnis, diesen Platz zu betreten, wirklich war und das der Tanuki die Reinheit ihrer Seelen erkannte. Als er aus seinem Sinnen erwachte, fielen ihm die vielen Waren ins Auge, welche seine Begleiter längst in ihren Bann gezogen hatten. Nutzgegenstände und Tand aller Art, doch auch Heilmedizin, Bekleidung und Nahrung für die Waldbewohner fanden hier Platz. Dazu kamen Fossilien, magische Artefakte und Heilsteine, deren Schein die Theken in vielerlei Farben erhellten. An den Seiten hingen kleine Laternen mit Irrlichtern, welche in nachtblau, türkis oder karmesinrot dazu dienten, den Marktbesuchern einen guten Blick auf die besten Waren zu geben. Das war es also, was die Gruppe zuvor im Walde sah; es mussten Tiere gewesen sein, die solche Laternen mit sich geführt hatten. »Seht nur, diese kleinen Wichte dort«, sagte Hiro und deutete auf die vielen Ezo momonga, die sich an den Ständen tummelten. Diese weißen, kleinen Zwerggleithörnchen waren überall auf dem Markt verteilt und verwirrten unsere Helden, indem sie stets zwischen deren Beinen hin und her huschten. Unter ihnen entstand so mancherlei Gezänk um die besten Waren und ihre quieksenden Stimmen waren nicht zu überhören. Ran'ō betrachtete diese kleinen, flauschigen Kerle äußerst argwöhnisch, genervt von deren aufdringlichen Benehmen, was Kaikei zum Kichern brachte. Als es Masami und die beiden Jungen an den Stand eines Nipponibis zog, passierte ein Serau die Wege Kaikei´s und blieb überrascht stehen. Mit einem kleinen Körbchen im linken Arm versetzte er: »Oh, Menschen! Wie nett, solch freundliche Gesichter.« Als Kaikei die raue Stimme dieses ziegenartigen Tieres vernahm, wollte er vor Schreck auf der Stelle hüpfen! Dann erinnerte er sich an die Worte des Tanuki: »Jegliche Gesetze der Natur sind hier aufgehoben.« So setzte der Sumōtori-Großmeister ein ehrliches Lächeln auf und gab zur Antwort: »Wie entzückend, einem heiligen Tier an diesem Ort zu begegnen.« Diese Worte erfreuten den Serau außerordentlich, der offensichtlich nicht wusste, dass die Menschen in Japan ihn als heilig ansehen würden. Seine Hörner waren äußerst eindrucksvoll. Neben den vielen Stimmen erklangen auch hie und dort Windspiele oder Glocken auf dem Markt. In der Ferne schien Musik zu spielen. Als ein weiteres Gleithörnchen zwischen den Beinen der beiden hindurchhuschte, bemerkte der Serau: »Nehmt Euch in Shirakami Sanchi in Acht vor den Ezo momonga. Sie mögen klein sein und einen harmlosen Eindruck erwecken, doch wenn sie sich bedroht fühlen, holen sie kleine Naginata hervor und fliegen damit von ihren Ästen oder Bäumen herunter, um ihren potentiellen Angreifern damit zuvorzukommen.« Kaikei versah den Serau mit einem Blick absoluter Sprachlosigkeit, worauf sich der Serau kichernd verabschiedete und sein Ziegenbärtchen dabei wie ein Pendel hin und her schwang. In der Tat schienen diese kleinen, perläugigen Zwerggleithörnchen wenig vertrauenswürdig zu sein, doch ob der Serau dem Sumō hier nicht einen Bären aufgebunden hatte? Kaikei gesellte sich zu den anderen, welche sich nicht vom Stand des Nipponibis entfernen konnten. Was hat sie so sehr in den Bann gezogen? Als Kaikei seiner Frau über die Schultern sah, wurde es ihm bewusst, denn die Theke schillerte in den edelsten und ansehnlichsten Jadefarben, die er je gesehen hatte. Jademurmeln, Steine aus serpentinischer Jade, Armreife aus seltener China-Jade, Jadeskarabäen und weitere Figuren schmückten den Tisch des ebenfalls als heilig angesehenen Nipponibis. Sein Charakter war unsagbar wohlgesonnen gegenüber den Menschen, sein langer Schnabel wirkte imposant und sein orangefarbenes Gefiederkleid ergab einen herrliches Farbspiel zu seinen Jadewaren. Nicht, dass Ran'ō allein schon von respekteinflößender Körpergröße war, aber als der Nipponibis die Erscheinung Kaikei´s in Augenschein nahm, war er verblüfft: »Ihr seid ein Riese unter den Menschen!«, ließ er sich höflich vernehmen. Kaikei lachte herzhaft darüber und fragte: »Edler Ibis, wie viel kostet dieser Armreif?« Der Vogel erwiderte: »Dieser seltene Armreif hat einen Tauschwert von fünfzig Flussschnecken, zwanzig Fröschen oder zwölf Fischen.« Nun war es der stämmige Sumōtori, der überrascht war: »Wie wäre es, wenn ich Euch fünf Ryō dafür anbieten würde?« Da schüttelte der Nipponibis mit dem Kopf und erklärte: »Für uns Tiere ist Euer Menschenzahlungsmittel äußerst schwer einzutauschen. Stellt Euch vor, Ihr seid ein Ibis und erscheint in einem Geldinstitut für Menschen.« Kei musste kichern, wenngleich es dem Nipponibis ernst war, doch er konnte nicht anders. Dafür erntete er einen strafenden Blick von Masami. Kaikei rieb sich sein großes Kinn und verstand, was der Ibis meinte. Der Vogel hätte mit diesen fünf Ryō auch kaum Gemüse auf einem gewöhnlichen Markt nahe der Dörfer einkaufen können. »Wie schade«, versetzte Kaikei sodann, »doch leider habe ich nichts, was für Euch von Interesse sein könnte.« Masami wusste, dass Kaikei ihr gern einen solchen Armreif geschenkt hätte, hatte jedoch Verständnis für die Lage des Ibis. »Ihr seid in Ordnung«, versetzte der Nipponibis sodann, »Wenn wir schon nicht tauschen können, so lasst mich Euch einen Tip geben: Haltet Euch von der Westseite des Marktes fern. Die Katzen, die dort Handel betreiben, sind nicht vertrauenswürdig und handeln mit fragwürdigen Waren. Im schlimmsten Fall ist es möglich, sogar an einen Bakeneko zu geraten.«
»Oh nein!«, rief Masami und legte die Hände an die Wangen. »Kaikei, keine Katzengeister!«, rief sie und Kaikei hatte sichtlich Mühe, seine aufgebrachte Frau zu beruhigen.
»Meine liebe Frau, hab keine Sorge. Wir werden uns von der Westseite des Marktes fernhalten.«
»Wenn wir eine Kröte finden, bringen wir sie zu Euch!«, brach es aus Kei heraus und der Ibis lächelte dankbar. Zum Glück ging diese Aussage an Masami´s lieblichen Ohren vorbei, die in jenem Augenblick mit Kaikei in ihrem Gespräch um die Katzengeister vertieft war. Ran'ō konnte nichts als freudig lachen über diese witzigen Momente. Sie wünschten dem liebenswerten Nipponibis alles Gute und lustwandelten weiter über den Nachtmarkt der Tiere. Die Augen unserer Helden waren unentwegt verzückt von den Schillerfarben der vielen mystischen Gegenstände auf den Theken der Händler. Sie passierten eine Buntfasan-Händlerin, deren Verkaufsstand einem winzigen Nōka – einem traditionellen Bauernhaus - ähnelte, mit einem Dach aus nachtblauem Geblätt. Sie bot Heilsteine in unterschiedlichen Größen an, deren Kraft von Naturgeistern gespeist war. Diese Steine hinterließen sagenhafte Eindrücke, insbesondere bei Masami, Hiro und Kei, denn die Buntfasanin schien diese Steine aus der ganzen Welt mühevoll herbei geschafft zu haben. Es fielen Namen wie Labradorit, Falkenauge, Amulettstein, Bergkristall, Rosenquarz, Amethyst, Regenbogen-Obsidian, Sonnenstein, Septarie, Apachenträne und Feenstein. Dieses Tier schien über ein außerordentlich hohes Wissen zu verfügen und es machte den Eindruck, als wäre es bereits in würdevollem Alter und sehr weise gewesen. Einige Hasen mit Schürzen murmelten hinter vorgehaltener Pfote, sie habe hellseherische Kräfte besessen. An ihrem breiten Verkaufstisch tummelten sich nicht nur die bereits bekannten Zwerggleithörnchen, sondern auch Katzen und Rotgesichtsmakaken. Den Augen der Händlerin entging nichts und so brauchte auch niemand nur den Versuch eines Diebstahls zu unternehmen. »Ein gestohlener Stein wird niemals seine Kräfte mit demjenigen teilen, der ihn entwendet hat«, hob die Buntfasanin mahnend ihren Flügel und verlor dabei nie ihre gravitätische Haltung. So hatte sie den Respekt der meisten Tiere inne, wenngleich die Katzen und so manche Baummarder mit vielerlei Schlichen gespickt waren und sich keine Angst einjagen ließen. All diese wertvollen Heilsteine strahlten äußerst starke Energien aus und Kaikei begriff sofort, dass solcherlei Kostbarkeiten nur von erfahrenen Wesen genutzt werden sollten. Heilsteine sind hilfreich für alle Menschen und womöglich auch für Tiere, doch diese mit der Kraft von Naturgeistern gespeisten Steine waren außergewöhnlich und unter den Menschen in dieser Form nicht bekannt. Es war sagenhaft, was die Tiere dieses Marktes an Entwicklung und Wissen offenbarten. So gingen unsere Helden weiter und ihre Ohren wurden weiterhin von den klanglichen Nuancen geschmeichelt, welche von den Instrumenten in der Ferne herrührten. Es machte Kaikei staunen, über welch ausgefeilte Zungenfertigkeit all diese Tiere verfügten und es benötigte oft einen hohen Stimmaufwand in diesen verwinkelten Waldstraßen. Bald erreichten sie einen Stand mit einem alten Bekannten, welchen Kaikei aus seiner Heimatprovinz Iburi kannte. Es handelte sich um einen Ezo kuroten, auch bekannt als Zobel. »Potzblitz, wenn das nicht der gute Kaikei ist!«, rief der Zobel und lotste die Menschen zu sich herüber. »Bist Du nicht der Zobel, der uns im Winter oft besuchen kommt?«, fragte Kaikei. »Ja, das bin ich!«, antwortete der Zobel, »Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns je an diesem Ort hier treffen würden. Oh, seid auch Ihr gegrüßt, edle Masami.« Masami war entzückt vom Antlitz des niedlichen Zobels, der an kalten Wintertagen oft im Garten von Kaikei und Masami zu Besuch kam und stets etwas Futter von den beiden als Geschenk erhielt. »Was bietest Du denn Schönes an?«, fragte Hiro neugierig und der Ezo kuroten fuhr mit der Pfote über die vielen Kleidungsstücke auf seiner Theke. »Es handelt sich um Schutzkleidung, aber auch um edle Seidenkimonos, die sogar für den Winter geeignet sind. Meine Familie und ich arbeiten als Seidenwirker. Wenn einmal im Monat der Vollmond erstrahlt, dann komme ich hierher und verkaufe unsere Waren.«
»Gibt es diese Kleidung auch in Menschengröße?«, fragte Kei, worauf der Zobel beschämt mit dem Kopf schüttelte.
»Ich habe keine Kleidung in passender Größe für Euch, doch wenn Frau Masami einen Seidenkimono wünscht, so könnte ich einen für sie verfertigen und später in Iburi bei Euch vorbei bringen.«
»Welch eine Freude«, hielt Masami ihre Hände gegen die geröteten Wangen, »Einen von einem Zobel gefertigten Kimono würde ich mit Stolz tragen.« Da lachte Kaikei wieder einmal frohgemut und sagte: »Dieses Geschäft machen wir, Freund Zobel.« Der Ezo kuroten war hocherfreut: »Bevor der Winter beginnt, werde ich zu Euch kommen. Damit ich aber nicht von anderen Menschen mit dem Kimono gesehen werde, klopfe ich des Abends an Eurer Türe. Da wir dort aber nicht so miteinander sprechen können wir hier an diesem Ort, bitte ich Euch, einen Topf mit Honig und viele leckere Fische bereitzuhalten. Dann wird unser Tausch gelingen.«
»Hai! Wenn es etwas gibt, womit ich Dich versorgen kann, kleiner Freund, dann sind es Fische«, stützte Kaikei die Fäuste auf die Hüften. »Für einen Honigtopf wird auch gesorgt sein«, erklang Masami´s liebliche Stimme. Der Zobel leckte sich das Schnäuzchen und sagte: »Zum Schluss, liebe Freunde, lasst mich Euch einen Hinweis geben. Hier in der Gegend treibt sich eine Bande diebischer Marder herum. Die Tanuki haben alle Pfoten voll zu tun, diese gerissenen Kistenfeger vom Markt fernzuhalten. Seid vorsichtig, sie sind sehr gefährlich.«
»Wir danken Dir, edler Freund«, sagte Kaikei sodann und sie verabschiedeten sich in aller Freundschaft von dem Zobel, welchen Kaikei und Masami im kommenden Winter wiedersehen würden. Aus der Ferne sah die Gruppe einen Stand, an dem eine Iriomote-Katze fossile Korallen anbot. Ihr Blick war äußerst genervt von den vielen, quieksenden Gleithörnchen, die sich um die Waren tummelten. »Du da, lass das nicht fallen, das ist wertvoll«, murrte die Iriomote-Katze in die Richtung eines der kleinen Ezo momonga, das seine Pfoten nicht von den Fossilien lassen konnte. Kurz darauf erschien eine freundliche Bergziege an der Seite der Katze, um sie zu unterstützen. Ran`o erklärte: »Diese Tiere kommen von der Insel Iriomote, daher auch ihre Namen. Diese Iriomote-Katze und die Iriomote-Bergziege an ihrer Seite haben sich wahrscheinlich als Verkäufer-Duo für den Verkauf ihrer fossilen Korallen zusammengetan. Faszinierende Tierwelt.« Das beeindruckte insbesondere Hiro und Kei sehr. Die vielfarbigen Laternen-Irrlichter tauchten die windumspielten Wipfel in immer neue Farbtöne ein. Wenn die Laternen vom Winde vorbeihuschender Marktbesucher erfasst wurden, setzten sie die glimmernden Waren besonders in Szene, sodass auch die Wipfel von den gespiegelten Lichtpunkten beschimmert wurden und dieser Markt den Eindruck eines Laternenfestes erweckte. All die vielen Eindrücke, die verschiedenen Tiere, die Waren, die Stimmung, sie ließen unsere Helden glauben, in einer anderen Welt zu leben. Könnte in Anbetracht dieser außergewöhnlichen Nacht sogar etwas an diesem Glauben dran sein, liebe Leserschaft?
* * *
In jenem Augenblick wurde Kaikei grob von einem Rotgesichtsmakaken angerempelt. »Nanu, was soll das?«, brummte er laut, als er dem Affen hinterher sah. Dann bemerkte Kaikei, dass ihm ein Beutel mit Dingen entwendet wurde, der ihm gehörte. In diesem Beutel befand sich all sein Geld, eine beachtliche Summe, und Kaikei dachte an die Übernachtungskosten für die Herberge. »Bleib´ sofort stehen, Du diebischer Primat«, rief Kaikei dem Affen nach und wollte sich an dessen Fersen hängen, als eine Unruhe unter den Marktbesuchern entstand, welche durch die eiligen Schritte des fliehenden Rotgesichtsmakaken verursacht wurde. Ran'ō wollte Kaikei noch zurückhalten, doch es war zu spät und die Gruppe wurde in dem wilden Getümmel voneinander getrennt, wodurch sie auch nicht vom Serau erfahren konnten, wie weit sie sich von der Westseite des Marktes entfernt befanden, vor der sie der Nipponibis zuvor gewarnt hatte. Kaikei machte sich an die Verfolgung des kleptomanischen Affen, während von Ran'ō und Masami jede Spur fehlte. Die Ezo momonga, die kleinen Zwerggleithörnchen, waren aufs äußerste nervös und quieksten wild durcheinander. Sie huschten so schnell über die Marktwege, sodass es kaum wundert, dass unsere Helden sich aus den Augen verloren hatten. Nur Hiro und Kei waren zusammen geblieben und fanden sich etwas abgelegen der vollen Waldstraßen wieder, wo sie einen sonderbaren Katappenbaum entdeckten.
Gefällt Euch diese Leseprobe? Sie ist Teil und Hauptgeschichte meines Buches »Kaikei auf dem Nachtmarkt der Tiere«.
Zu dieser Geschichte gibt es mehrere Illustrationen. Diese und weitere könnt Ihr auf der Website von Mariella Fahr betrachten: www.mariellafahr.com
___23. August 2024
~ Ein gewiefter Streich ~
In der Küstenprovinz Mikawa lebte einst ein Bauer mit dem einfachen Namen Kō. Er gehörte zu den fleißigen Menschen, die ihre Leben in Armut fristeten und schwer arbeiten mussten, um den Reis zu ernten, den sich die Reichen in Edo schmecken ließen. Aller Umstände zum Trotze trug Kō das Herz am rechten Fleck und war immer für seine Mitmenschen da. Nahe seines einfachen Nōka* befand sich ein kleiner Waldabschnitt, der aus Bäumen des Schwarzen Spitzenahorns bestand. Die dunklen Blätter dieses kleinen Waldgebiets ließen die Gegend in dichten Schatten eintauchen, der an heißen Sommertagen sicheren Schutz vor der Hitze bot und es des Nachts unmöglich war, die eigenen Hände vor dem Auge zu erkennen. Eines Mittags legte Kō eine Pause ein und stärkte sich an einfachen Reisbällchen, als ihm das äußerst seltsam anmutende Verhalten kleiner Shima Enaga ins Auge sprang. Diese kleinen Vögel sind kaum größer als ein Sperling, besitzen jedoch ein weißes Federkleid mit grauschwarzem Rücken und schwarze Schnäbel. Es sind gern gesehene, friedliebende Tiere, an deren Anblick sich auch Kō erfreut. An diesem Tag bereiteten ihm die Vögel allerdings Sorgen, denn sie liefen benommen auf dem Waldboden herum und fanden nicht die Kraft, ihre Flügel schwingen zu lassen und abzuheben, um sich in den Bäumen zu verstecken. »Was vermag das zu bedeuten?«, sprach Kō leise zu sich selbst und sah, wie die kleinen Shima Enaga einfach auf die Seite fielen und dort liegen blieben. Kō unterbrach sein Mahl und prüfte einige der Vögel, um festzustellen, dass sie nicht dem Tode geweiht waren. Vielmehr schliefen sie tief und fest und Kō wusste, die Vögel konnten nicht zu wenig getrunken haben, denn es gab einen großen Fluss in der Nähe, an dem sie sich stärken konnten. Kō wusste ebenso, wie unnatürlich ihr Verhalten war und so legte er sie an sicheren Orten nieder, wo sie nicht die Opfer von Feinden werden und später lebend wieder erwachen konnten. Er sah sich die Umgebung an, doch außer der heißen Sonne gab es zunächst nichts, was ihm auffällig erschien.
In den darauffolgenden Tagen beschloss er, seine Mittagspausen stets an der selben Stelle unter den Schwarzen Spitzenahornbäumen abzuhalten, um die Tiere weiter zu beobachten. Am Boden lebende Tiere verhielten sich ihrer Natur entsprechend, doch die Shima Enaga waren wiederkehrend benommen und wankten der Waldwege entlang, bis sie schlafend auf die Seite fielen. Kō begriff nicht, was es damit auf sich hatte und befürchtete, die Tiere könnten einer heimtückischen Krankheit zum Opfer gefallen sein. Aus welchem Grund waren die anderen Tiere aber nicht davon betroffen?
Gegen Abend saß Kō mit seiner Familie und anderen Bauern in einer großen Runde beisammen, in der sie ihr bescheidenes Abendmahl einnahmen. »Habt Ihr gehört, eines der Hühner von Bauer Takeshi wurde in der vorletzten Nacht gerissen. Jetzt verbringt er seine Zeit damit, einen stärkeren Schutzwall für seine Tiere zu bauen«, erklärte einer der Bauern. »In der letzten Nacht«, erklärte eine junge Bäuerin, »wurde das Ehepaar Date ausgeraubt! Sie besaßen eine geheime Kiste in einem Raum ihres Hauses, wo sie die wenigen Dinge von Wert aufbewahrten, die sie besaßen. Am heutigen Morgen war die Kiste geöffnet und ihr Inhalt entfernt.« Diese Ereignisse ließen die Bauern aufhorchen und sie beschlossen, ihre Häuser und Tiere in der Nacht von einigen Freiwilligen bewachen zu lassen.
Wenngleich sie Vorsicht walten ließen, wurde die Umgebung in den Tagen darauf erneut von Diebstählen und gerissenen Tieren heimgesucht. Kō überkam ein schrecklicher Verdacht, auch wenn ihm das Verhalten der kleinen Shima Enaga weiterhin ein Rätsel blieb. So beschloss er, in der kommenden Nacht durch den Wald zu patrouillieren.
Inmitten aus den dichten Blättern der Schwarzen Spitzenahornbäume hallten die mystischen Rufe der Ezo-Eule, die wir auch als Habichtskauz-japonica übersetzen können. Hätte man davon ausgehen müssen, ihr weiß-bräunliches Federkleid würde leicht erkennbar sein, so irrte man sich, denn das dunkle Geblätt der Bäume ließ noch nicht einmal die Mondstrahlen zum Waldboden durchdringen. Kō bewegte sich leisen Schrittes mithilfe einer kleinen Laterne durch das Areal, welche er in der rechten Hand hielt. Hellwach, mit gespitzten Ohren, schlich er über jeden einzelnen Pfad des Waldstückes entlang, der vom Schwarzen Spitzenahorn geschmückt war. Nach etwa einer Stunde, er war beinahe fertig mit der Erkundung des Gebiets, da vernahm Kō auffällige Geräusche in den höchstgelegenen Wipfeln der dunklen Bäume. Es mussten die ältesten Bäume gewesen sein, die den Ursprung des Schwarzen Spitzenahornwaldes darstellten und die etwa zehn Meter hoch waren. Unter diesen Bedingungen war es Kō unmöglich, etwas vom Waldboden aus zu erkennen, denn selbst am Tage war die Sicht in diesem Schattenwald äußerst begrenzt. Plötzlich fiel etwas neben ihm zu Boden; es war ein weiterer, kleiner Shima Enaga, der nun neben einem Baume lag und vor sich hin schnarchte. Schnarchte? Wahrhaftig, dieser kleine Vogel schlief so tief und fest, dass er schnarchte! Kō hätte nie in seinem Leben geglaubt, Vögel könnten schnarchen. Ein solch tiefer Schlaf konnte der Natur unmöglich entsprechen und so nahm der junge Bauer seinen Mut zusammen, um den Baum zu erklimmen.
Dieses Unterfangen stellte sich als sehr viel schwieriger heraus als gedacht, denn Kō ließ seine Laterne unten stehen und tastete sich langsam vorwärts. Zehn Meter eines Baumes zu erklimmen, und dazu des Nachts, wer würde sich dies bei klarem Verstand schon wagen? Nach etwa sechs Metern bemerkte Kō, sich über den danebengelegenen Baumspitzen zu befinden. Kurzum, er war endlich weit genug nach oben geklettert, damit ein Teil des herrlich strahlenden Mondlichts zu ihm hindurchdringen konnte. Die ältesten Bäume in diesem mystischen Wäldchen überragten ihre Naturgesellen um etwa vier Meter, wie Kō feststellte. Die Geräusche befanden sich nun weitere zwei Meter über ihm und er konnte ein großes, breites Baumhaus erkennen, in dem allerlei Getümmel zu herrschen schien. Beinahe versagten ihm die Kräfte, denn es war eine große Aufgabe für Kō, diesen riesigen Baum ohne weitere Hilfsmittel wie Seile zu erklimmen.
Endlich hatte er sein Ziel erreicht. An den Holzplanken des breiten Baumhauses fand Kō guten Halt und so zog er sich zu einem der Fenster hinauf. Als er durch jenes Fenster spähte, so traute er seinen Augen kaum: Dieses Baumhaus war eine Sake-Taverne, hinter deren Tresen ein gewiefter Fuchs stand und Reiswein an Tiere ausschenkte. »Na, kleiner Freund? Noch ein Schlückchen?«, fragte der Fuchs einen Shima Enaga, der bereitwillig zulangte. Den Sake servierte der Fuchs in hübsch verzierten, kleinen Schalen, die zum Zechen geradezu einluden. In einer Ecke saß ein volltrunkenes Eichhörnchen; Kō war entsetzt. »Bitteschön, kleiner Freund«, versetzte der Fuchs und fuhr fort, »nun erzähl´ mir doch mal, was Du in letzter Zeit so aufgeschnappt hast. Gibt es an der Provinzgrenze einen Bauernhof mit Tieren?« Bereitwillig trug ihm der kleine Vogel alles weiter, was er wusste. Dieser schlaue Fuchs, dachte Kō bei sich, verführte die Tiere zum Trinken, um ihnen wertvolle Informationen zu entlocken! Die Sakeschalen klirrten aneinander, denn der Fuchs hatte nicht wenig damit zu tun, den gefiederten und pelzigen Trunkenbolden einzuschenken. »Ich verstehe. Du sagst also, diese Familie sei sehr reich? Was besitzen sie?«, fragte der Fuchs das Eichhörnchen aus, welches dem Hochprozentigen restlos verfallen war. Lallend erwiderte es mit deutlichen Worten, so ehrlich ein gutherziges Geschöpf in betrunkener Verfassung nur sein konnte, was es wusste. Natürlich war so ein Eichhörnchen nicht weiter auffällig in einer stark bewaldeten Gegend und kein Mensch wäre je darauf gekommen, es würde sich für ihr Hab und Gut begeistern. Weder Eichhörnchen, noch Shima Enaga würden bei den Menschen größere Beachtung finden, mit Ausnahme von Kindern, welche sie niedlich fanden. Da sah Kō etwas genauer hin: Der Fuchs trug einen langen, schwarzen Umhang mit einem silbernen Talisman um seinen Hals. Er hatte ein hübsches Antlitz, wie es für Füchse üblich war, doch sein Charakter war verdorben und durchtrieben von hinterlistigsten Ränkereien. Als ein Windzug durch die Baumtaverne blies, wurden ganze vier Schwänze unter dem onyxschwarzen Umhang sichtbar, was für Kō nur eines zur Bedeutung haben konnte: Dieser Fuchs war ein Kitsune. Es heißt, je mehr Schwänze solch ein Fuchsgeist besitzt, desto mehr Erfahrung und Wissensreichtum besitzt er. Plötzlich wandte der Fuchs seine Blicke in die Richtung des Fensters, an dem sich Kō versteckt hielt. Er setzte seine feine Spürnase ein, denn er glaubte, er würde einen Menschen wittern. Der Fuchs ließ kurz von seiner zechenden Gefiederschaft ab und begab sich zum Fenster. Nach einem achtsamen Blick nach draußen konnte er nichts weiter feststellen, wenngleich er sich vollends sicher war, einen Menschen zu wittern. Zu Kō´s großem Glück hatte der Fuchs keine Zeit mehr, denn er musste weiter seine tierischen Gäste in alkoholische Höhenflüge versetzen, um ihnen weiteres Wissen über die von Menschen bewohnten Anwesen in der Provinz zu entlocken. Unter dem Baumhaus hing Kō, der beinahe abgerutscht wäre, denn er konnte sich nur im letzten Augenblick vor dem Fuchs verstecken. So machte er sich auf den Weg des Baumes hinab, was noch einmal viel Zeit in Anspruch nahm. Nachdem Kō endlich wieder festen Boden unter seinen Füßen hatte, sprach er: »So sieht das also aus, ein Kitsune hinterhältigster Natur. Warte ab, morgen kriege ich dich.«
Gesagt, getan. Nachdem es am Folgetag erneut Berichte über einen Diebstahl und gerissene Hühner auf einem Anwesen an der Provinzgrenze gab, legte sich Kō einige Ausrüstung bereit, damit er sich mit ihr bei Nachtanbruch auf den Weg machen konnte. Tagsüber ging er wie gewohnt seiner Arbeit nach, beendete sie jedoch etwas früher als sonst, um noch etwas Schlaf zu bekommen.
Die Nacht war heran und Kō begab sich auf den Weg zur hochgelegenen Sake-Taverne. Diesmal hatte er ein langes Seil und einige Haken dabei, um sicheren Halt bei der Erklimmung des Baumes zu finden. Zudem hatte er sich mit etwas Moos eingerieben, damit der Fuchs ihn nicht gleich wittern würde. Diese Idee wurde begünstigt, da es tagsüber leicht geregnet hatte. In seiner rechten Hand hielt Kō erneut seine Laterne und mit seiner Linken hielt er diesmal einen Gewehrgurt fest, der zu einem Tanegashima gehörte, einem Luntenschlossgewehr, das ihm sein Großvater für die Nachtpatrouille geliehen hatte. Ein wertvolles Stück für ärmliche Bauern, doch des Glückes sei Dank waren zu jener nächtlichen Stund´ keine Samurai anzutreffen, die ihm das Tanegashima im Namen der Regierung hätten abnehmen dürfen. Für sie gab es zu dieser Zeit nichts Interessantes in diesem Wald, was allerdings nicht auf Kō zutraf. Mit dem Gewehr über seiner Schulter, begab er sich ein zweites mal auf den großen Baum. Mit den Hilfsmitteln hatte er es einfacher, zumal er den Baum bereits gut kannte. Es klang, als würden sich einige Vögel miteinander streiten; der Sake musste ihnen bereits buchstäblich zu Kopf gestiegen sein. Nachdem er die Baumtaverne zügig erreicht hatte, zog sich Kō eine Stoffmaske über, denn er wusste um die List der Füchse und wollte verhindern, mit einem Zauberstaub in Berührung zu kommen oder diesen einzuatmen. Solch magische Mittel konnten viele unterschiedliche Wirkungen haben, welche Kō allesamt nicht probieren wollte. Er stellte sich vor die kleine Türe zur Baumtaverne und atmete einmal tief durch, denn er wusste, was von seinem Handeln abhing. Hätte er es seinen Mitmenschen berichtet und man wäre gemeinsam dorthin gegangen, hätte der Fuchs dieses Aufsehen sicher bemerkt und wäre getürmt. Kō wusste darum, und ohne länger zu zögern, öffnete er die Türe und trat freundlich ein. Die vielen Shima Enaga suchten sogleich das Weite, wenn sie im Fluge auch etwas wankten. »Potzblitz! Wen haben wir denn da?«, versetzte der Fuchs sogleich, »es erstaunt mich wohl, einem Menschen hier oben zu begegnen, und einen noch so seltsam gekleideten dazu.«
»Bitte entschuldigt mein Auftreten. Mein Name ist Kō.«
»Wie entzückend, man nennt mich Mankō, den wandernden Fuchswirt. Wie wäre es mit einem Schluck wohltuenden Sake, wenn unsere Namen schon so ähnlich klingen?«
»Ich lehne dankend ab, Herr Mankō. Ich möchte gleich zur Sache kommen: Ich bitte Sie, die Tiere nicht mehr mit Sake zu versorgen. Ihre Gesundheit leidet sehr unter dem Alkoholeinfluss, denn ihre kleinen Körper vertragen ihn sehr schlecht.«
»Das geht leider nicht«, erwiderte Mankō mit dem schwarzem Umhang, »sonst kann ich leider mein Geschäft nicht weiter betreiben.«
»Könnten Sie Ihr Geschäft nicht andernorts weiterführen?«
»Offen gestanden, wollte ich hier noch etwas verweilen. Sind Sie sicher, dass Sie keinen Sake wollen? Für Hartgesottene habe ich sogar Reisschnaps vorrätig.«
»Herr, ich weiß, wie Sie den Tieren in volltrunkenem Zustand Wissen entlocken, um die Menschen in der Provinz zu berauben und deren Tiere zu reißen. Es ist mir ein großes Anliegen, diese Zustände zu beenden, denn die Menschen in dieser Gegend besitzen ohnehin nicht viel.«
»Wenn sie nicht viel besitzen, können sie doch auch gleich teilen.«
»Wie bitte?«
»Oh, nichts! Herr Kō, Ihr Besuch ehrt mich, doch leider kann ich Ihrem Anliegen nicht entgegen kommen. Ich kann Sie aber einladen, eine Zeit lang in meinem bescheidenen Hause zu verweilen.«
»Haben Sie Dank, Herr Fuchs, doch ich lehne erneut ab und bitte Sie abermals darum, diesen Wald und diese Provinz zu verlassen.«
»Das geht nicht! Lesen Sie gern Bücher? Ich bin schon viel herumgekommen und könnte Ihnen Seeräubergeschichten oder einheimische Berichte über Begegnungen zwischen Menschen und Geistern überreichen, wenn Sie mich dafür im Gegenzug weiter meinen Geschäften nachgehen lassen.«
»Sprechen Sie etwa über Begegnungen wie unsere, Herr Kitsune?«
»Herr Mankō, bitte. Kitsune ist der Name unserer Art. Aber ja, Sie liegen richtig, es sind genau solche Berichte, die ich meine.«
»Herr Mankō, so kommen wir nicht weiter. Wenn Sie meiner Bitte nicht auf friedlichem Wege Folge leisten, so muss ich neue Überlegungen anstellen, unseren Konflikt zu lösen.«
»Welchen Konflikt? Ich sehe keinen Konflikt, jedenfalls nicht von meiner Seite. Da Sie nun allerdings wissen, welchem Volke ich angehöre, so seien Sie sich gewiss, dass ich nicht einfach zu vertreiben bin.«
Ein Augenblick der Stille verging. Nur der Ruf einer Zwergohreule aus einem benachbarten Wipfel störte die friedliche Nachtruhe. Da zog Kō sein Tanegashima und entzündete die Lunte, um es dem Fuchs direkt vor die Schnauze zu halten.
»Herr Mankō, ich unterschätze Sie keinesfalls. Ich bitte Sie abermals, diese Provinz zu verlassen oder ich werde Gebrauch von diesem Gewehr machen müssen. Glauben Sie mir wenn ich sage, dass ich nur ungern zu diesem Mittel greife.«
Im Angesicht dieser brennenden Lunte versetzte der Fuchs: »Glauben Sie nicht, ich hätte hinter meinem langen Tresen kein geeignetes Mittel für einen Gegenangriff?«
»Das glaube ich ganz sicher, doch was glauben Sie, wer von uns beiden schneller ist? Ich, der Sie bereits im Visier hat, oder Sie, der noch einen Griff zu seinem Ziel entfernt ist? Ich möchte wohl sagen, Sie wären ein wahrhaft wärmend Gewand für den Winter oder auch ein schmückender Bettvorleger.«
Diese Aussage gefiel dem Fuchs ganz und gar nicht. So gab er nach: »Ich gebe zu, Sie haben mich überzeugt. Ich halte Ihre Worte für gänzlich unfreundlich und unangemessen. Ich werde mein Gut zusammenräumen und die Provinz bei Tagesanbruch verlassen.«
»Wie nett, dass Sie das erbeutete Gut an die beraubten Menschen zurückgeben werden.«
»Also das kann ich ja nun wirklich nicht tu ---«
Da hob Kō das Gewehr noch etwas höher und hielt dem Fuchs die brennende Lunte direkt vor die Nase.
»Schon gut, schon gut«, beschwichtigte der Fuchs den Bauer, »Ich werde das Gut den Leuten vor die Türen legen. Ungehobelter Kerl.«
»Das zu hören stimmt mich glücklich«, sprach Kō, »doch bedenken Sie, wenn Sie morgen nicht verschwunden sind, so komme ich wieder.«
»Es wird kein Bedarf danach bestehen«, versicherte der Fuchs und machte eine begütigende Geste mit seinen Pfoten.
»Sodann, auf bald«, verabschiedete sich Kō. »Hoffentlich nicht«, sprach der Fuchs.
Am nächsten Morgen erfüllte eine außergewöhnlich friedliche Atmosphäre die Provinz Mikawa. Etwas müde und erschöpft, erhob sich Kō, denn die Arbeit rief nach ihm. Während seiner Pause allein im Wald des Schwarzen Spitzenahorns bemerkte er die letzten benommenen Vögel der vorangegangenen Nacht. Des Abends berichteten die Menschen in der Umgebung, sie hätten ihr gestohlenes Gut vor ihren Behausungen liegend vorgefunden. In den Tagen danach sah Kō keine betrunkenen Tiere mehr und alle benahmen sich wieder ihrer Natur entsprechend. Der Fuchs hatte Wort gehalten, freute sich Kō über seine große Tat. Fortan waren alle Tiere wieder normal und Ruhe kehrte in Mikawa ein.
Wer nun glaubt, dies sei das angemessene Ende für diese Geschichte, der irrt. Das Luntenschlossgewehr, mit dem Kō den Fuchs bedrohte, war nicht mehr aufzufinden. »Kō, was hast Du mit meinem Gewehr angestellt? Wo ist es?«, fragte ihn sein Großvater. Sie hatten alles abgesucht, doch es war verschwunden. »Mankō, dieser gewiefte Fuchs«, flüsterte Kō vor sich her. Während Mankō, der Fuchs mit dem schwarzen Umhang, mit dem Gewehr von Kō´s Großvater in die nächste Provinz zog, um dort eine neue Baumhaus-Taverne zu eröffnen, kassierte Kō fürchterliche Schelte von seinem Großvater.
*traditionelle Bauernhäuser aus Holz
___25. Februar 2022
~ Das O-bon-Laternenfest ~
In der Provinz Nagato, im letzten Jahr der Regentschaft des Kaisers Chōkei in der Muromachi-Zeit*, wurde wieder das O-bon zur Errettung der Seelen verstorbener Ahnen gefeiert. Viele Familien finden sich während der Festlichkeiten zusammen, um die Gräber ihrer Vorfahren zu besuchen und zu pflegen. Kesuke ward gerade siebzehn Jahre alt, als er sich mit seiner Familie auf einem idyllischen Pfade zu einem wunderschönen, langen Fluss befand, nachdem die Sonne bereits fast hinter dem Horizont versunken war. Er wie auch seine Eltern, seine ältere Schwester, seine zwei Tanten und drei Cousins liefen neben vielen anderen Familien her und trugen die schönsten Laternen, welche sie selbst verfertigten und bemalten. Zudem trugen sie kleine, eigens geschnitzte Holzboote bei sich, um die Laternen nach Ankunft am Ufer auf der kristallklaren Oberfläche des Flusses abzusetzen und die Zusammenkunft mit ihren Ahnen zu zelebrieren, welche für eine kurze Zeit aus dem Jenseits ins Diesseits zurückkehrten. Die ersten Blätter fielen von den Bäumen, es raschelte unter den Geta der Menschen, da träumte Kesuke vor sich hin und bemerkte nicht einmal, wie er sich von den anderen entfernte. Seine Familie empfand dies nicht als ungewöhnlich; so erwarteten sie Kesuke´s Nachscheinen am Flusse. Als Kesuke sich wieder der Menschenschaft anzuschließen gedachte, vernahm er das Schimmern kleiner Laternen in der Ferne. Womöglich würden auch andere Gefahr laufen, sich im Walde zu verirren, dachte er bei sich. So ging er dem Schimmern nach. Es wurde dunkel, das Lichtermeer der Laternen zog in eine andere Richtung und Kesuke sah nur noch etwas dank des Lichtes seiner eigenen Laterne, die er vor sich her trug. Als er die Lichtung erreichte, aus welcher die Dämmerlichter in sein Auge traten, erblickte er ein weibliches Wesen in einem purpurnen Kimono, das ihm den Rücken zuwandte. Der Kimono wurde von einer großen, roten Schleife zusammengehalten. »Entschuldigt bitte, habt Ihr Euch verirrt? Benötigt Ihr Beistand?«, fragte Kesuke. Die Frau wandte sich ihm zu und er sah in eine Kitsune-Maske². Sie trug einen wunderschönen, roten Lampion bei sich, dessen Mitte von einer Kerze in farbenfrohes gelb getaucht ward. Sie näherte sich ihm mit bedächtigen Schritten und er fühlte, wie ihm die Knie erweichten. Zu gern wollte er wissen, wie sie wohl unter dieser Maske aussah, deutete ihr Erscheinungsbild doch auf edle Anmut hin. Aus nächster Nähe stellte er jedoch die mystische Bemalung der Kitsune-Maske fest, deren Augen und Innenohren in tiefem rot leuchteten. Er sinnierte über die weitere Umgangsform, welche er ihr gegenüber wohl walten lassen sollte. »Sprecht ruhig zu mir, habt keine Scheu. Ihr braucht Euch nicht zu fürchten«, versetzte Kesuke beflissen. Als die Frau vor ihm stand und stumm verblieb, beschloss Kesuke, sich wieder dem Laternenzug anzuschließen. Nachdem er sich umwandte, stand eine weitere Frau vor ihm, welche sich nicht von der anderen unterschied. Er sah beide an, als noch vier weitere Frauen in purpurnen Kimonos, mit Lampions in den Händen, erschienen und ihn einkreisten. Schleichend begannen sie, sich im Kreise zu bewegen. Dies Spiel wurde ihm zu mühselig, so nahm er einer Frau die Maske ab. Als er darunter kein Gesicht vernahm, fiel der Kimono in sich zusammen. Was übrig blieb, war ein Stoffteil und ein erloschener Lampion auf dem Waldboden. Er wiederholte diesen Vorgang mit vier weiteren Frauen, was stets zum selbigen Ergebnis führte. Die diabolischen Augen der Masken glühten unheilverkündend. Der Lampion der letzten Frau jedoch, er erhellte das Waldstück besonders klar. Sie nahm ihre Maske ab und lächelte: »Hat Euch mein kleines Spiel gefallen? Welch ein wunderbares Fest es doch heute wieder ist.« Ihr Lächeln ließ ihn in eine Traumwelt eintauchen; nie sah er in ein bestrickenderes Antlitz als das ihre. Zudem war sie üppig bestückt, das musste er sich wohl eingestehen. Würde er diese Gelegenheit säumen, so wäre er des Wahnsinns, ging ihm durch den Kopf. »Ja, ein wunderschönes Fest«, bestätigte er sie und fügte hinzu, »Ihr seid schön. Was macht ein Mädchen wie Ihr allein in einem solchen Teil des Waldes, wo doch die Sonne bereits untergegangen ist?«
»Ich möchte an den Feierlichkeiten teilnehmen, habe mich jedoch verlaufen. Des Glückes sei dank, Ihr habt mich gefunden.«
»Wie gelang Euch die Scharade mit den Kimonos? Niemand befand sich darunter, wie ist es nur möglich?«
Erst dann vernahm Kesuke die Ohren auf dem Haupte der Frau, die aus ihrer weißen Haarpracht herausstachen. Sein Auge schweifte sodann in Richtung des Waldbodens, wo er den Anblick des Schwanzes erhaschte, welcher unter ihrem Kimono hervor lugte. »Bin ich nicht schön? Wollt Ihr nicht bei mir bleiben?«, drang sie in ihn ein. »Ihr seid eine Füchsin. Meine Großeltern warnten mich vor Euch, als sie noch lebten«, gab Kesuke zu verstehen, als kurz darauf das Licht seiner Laterne einen Augenblick lang aufflammte. »Glaubt ihnen nicht, wir sind nicht alle von dunkler Gesinnung. Ihr werdet es sehen, wenn Ihr nur bleibt«, gedachte sie ihn zu verführen. »Ich bleibe bei meiner Familie«, gab Kesuke der Füchsin zur Antwort. »Bleibt!«, stieß sie alsogleich aus, bis ihre Augen wie Glut zu glimmen begannen. »Ich bleibe, wenn mein Hund mit uns gemeinsam leben kann. Er wartet im Hause der Familie auf meine Rückkehr. Ich habe hier noch sein Haar an meiner Kleidung.« Er wischte über seine Bekleidung, um das Haar zu entfernen. Sie verstummte, die Augen verloren das feuerrote Glimmen. »Habt Dank für die kleine Vorstellung«, bedankte sich Kesuke, »ich werde wieder zu meiner Familie wandern.« Schnellen Schrittes entfernte sich Kesuke, den mystischen, kühlen Atemhauch der Füchsin in seinem Nacken spürend. Späterhin langte er am Flusse an. »Kesuke, wir haben Dich vermisst«, gab sich seine Mutter besorgt. »Entschuldigung, das wird nicht wieder geschehen. Es ist alles in bester Ordnung«, beruhigte er seine Mutter. Er legte sein Holzboot ab, platzierte die Laterne darauf und ließ sie auf dem Wasser hinfort treiben, gemeinsam mit hunderten von Laternen, die den Wald erleuchten ließen. Kesuke spürte die Anwesenheit seiner Großeltern, die ihren Stolz ihm gegenüber zum Ausdruck brachten. Von ihnen erfuhr er nicht nur von den Kitsune, sondern auch das sie große Furcht vor Hunden besaßen. Welch Wissen von unschätzbarem Wert! Einen jenen Hund, den Kesuke in Wahrheit nicht besaß. Er wusste von dem Glück im Unglück, welches ihn einholte. Denn dieser Kitsune-Geist war gefährlich; nur seine List mit dem Hunde brachte ihm die Zeit ein, um die Füchsin in Verwirrung fallen zu lassen und entfliehen zu können. Ihre Aura wirkte bedrohlich, doch war sie noch unerfahren. Er grüßte seine Großeltern zum Danke, welche den Gruße freudig erwiderten, bis sie für weitere zwölf Monate ins Jenseits zurückkehrten.
*1383
² Traditionelle Maske eines Fuchsgeistes
Gefällt Euch diese Geschichte? Sie ist Teil einer zahlreichen Sammlung an ostasiatischen Geistergeschichten mit Fokus auf China und Japan, die bereits in meinen Büchern erschienen sind.
Zu dieser Geschichte gibt es eine Illustration. Diese und weitere könnt Ihr auf der Website von Mariella Fahr betrachten: www.mariellafahr.com/marco-kelm-illustrationen
___01. Mai 2021
Verfasst von Marco Kelm für Jona Rosa, ´Joyabella´
~ Die Glasmurmelhändlerin ~
Es begab sich in der Zeit des Mittelalters, da lebte ein ärmlicher Herr zurückgezogen in seiner kleinen Holzhütte. Bescheiden ward er, besaß er als einfacher Klutenpedder nur wenige Gulden, doch reichte das Wenige aus um davon zu leben. Die Wächter ließen ihn stets passieren und durch die hohe, mit Türmen bestückte Stadtmauer zum Wochenmarkt gehen. Seine eigenen Erzeugnisse durfte er nur auf kleinen Märkten versetzen und da sein Grund von mittlerem Wert ward, baute er nur die ertragreichsten Güter an. In der Stadt suchte er demnach für sich selbst nach besonderen Früchten, nach Gemüse oder Arbeitsmitteln, die er andernorts nicht erstehen konnte. Voll Achtsamkeit schlenderte er über den Marktplatz, während er die respektlosen Stöße der anderen Menschen gegen seine Schultern gewohnt ignorierte, und bestaunte die Waren der Handelsleute. Neben verlockenden Süßwaren, die er sich weder leisten konnte, noch wegen seines Guldenbestandes wollte, gab es viele Gemüsehändler und gar einen Stand mit edlen Düften. Wer diesen Stand passierte, nahm die Düfte wider Willens wahr, denn sie flogen in alle Himmelsrichtungen. Doch der Herr kaufte die üblichen Lebensmittel die ihm schmeckten und freute sich, wenn noch Gulden übrig blieben. So machte er sich mit einem gut gefüllten Korb an Obst und Gemüse und kleinen Arbeitsmaterialien auf den Heimweg, während er durch eine enge Marktgasse lief, welche er sonst nie nutzte. In dieser Gasse ward es äußerst dünkelhaft und er stellte fest, Händler mit außergewöhnlichen Artefakten vorgefunden zu haben. Die Burgwände waren über feste, steinerne Brücken miteinander verbunden und ließen des Tages´ Licht nicht zu, sodass nur Fackeln genügend Sicht auf die wertvollen Dinge boten, um die sich die sonderbarsten Gestalten rankten. Die mystischen Händler, meist in Kutten gehüllt, handelten hohe Preise mit ihren Käufern aus. Je weiter er lief, desto größer wurden die Augen des Bauern, während er andächtig den zähen Verhandlungen der Leute lauschte. »Hier gibt es den einzigartigen Jadereif!«, hallte es aus einer Ecke, »Dieser Sonnenstein besitzt heilende Kräfte«!, hörte man aus einer anderen. Juwelenversetzte Skarabäen, Rubinherzen, Schakalstatuen - nie sah er solcherlei Schätze, noch wusste er etwas über deren Wirkung. Er näherte sich dem Ende der sagenhaften Gasse, als er einen Stand voller Perlen sah. Dahinter saß eine Dame, welche in Antlitz und Benehmen von allen anderen Händlern hervorzuheben ward. So winkte sie ihm bereits aus der Ferne zu; er bemerkte dies wohl, glaubte jedoch kaum, wirklich von ihr gemeint gewesen zu sein. Sein Atem stockte und kleine Schweißperlen bildeten sich auf seiner glatten Stirn. Es musste ihn wundernehmen, von ihr gemeint gewesen zu sein. »Komm´ doch her!«, rief sie ihm zu. Wie sollte er ihr erklären, sie würde ihre Zeit an ihm verschwenden, der nicht annähernd so viele Gulden besaß, welche dem Wert ihrer Perlen - oder waren es Murmeln - gleich kamen. »Sei nicht schüchtern, Du bist Willkommen geheißen«, gab sie ihm zu verstehen. »Habt Dank, edle Frau«, erwiderte er stotternd. Sie kicherte über seine beschämte Zurückhaltung. »Entschuldigt bitte vielmals, doch ich habe nicht - - -«, begann er den Satz, mit dem er sich aus der Situation herauszuwinden gedachte. Doch sie brachte ihm entgegen: »Wie findest Du meine Glasmurmeln? Es sind sehr viele, vielleicht gibt es auch eine für Dich unter ihnen?« Erst dann ließ er die Glasmurmeln auf sich wirken, welche in den schillerndsten Farben glänzten und diesen schattenhaften Ort in einen Hort der Ruhe und Glückseligkeit verwandelten. Jedes Stück einmalig, unterschieden sie sich in all ihren seltenen Farben, die ineinander überliefen, als wären sie in der Natur miteinander verschmolzen. Glitzerdurchwirkt, harmonierten sie in einer Farbsymphonie, die sie wie eigene, ferne Welten erscheinen ließen. »Wie entstehen diese Murmeln?«, fragte der Herr voll Zurückhaltung. »Mit großer Hingabe unter gleißendem Feuer«, erklärte sie und fügte hinzu, »jede Murmel ist aus besonderem Glas verfertigt und beinhaltet die Kraft der Feen und Waldgeister.« Dies beeindruckte ihn wahrlich, denn von dieserlei Geschöpfen hörte er oft. »Doch sah ich sie nie mit eigenen Augen«, brachte er ein. »Öffne Herz und Seele dafür und Du wirst sie sehen«, kicherte sie. In ihrer Stimme lag eine tiefe Überzeugung, so verspielt sie es ihm auch einprägte. Beeindruckt sah er auf, doch dann fiel ihm sogleich sein kleiner Geldbeutel ein. »Eure Werke sind freilich keine einfachen Glasmurmeln«, konstatierte er gewissenhaft, »sie sind Zauberperlen. Sie erleuchten diesen Ort, der sonst nur von den tanzenden Flammen des Fackelfeuers erhellt wird. Nie brächte ich den Reichtum auf, um ihn gegen Eure Schätze einzutauschen.« Die Dame, in kastanienbraunem Kleide und einer einprägsamen, üppigen Spitzmütze, studierte sein Auge genau. Fast ward es ihm, als hätte sie in seine Seele gesehen. Dann nahm sie die Glasmurmel, auf die sein Augenmerk seit Anbeginn seines Besuches an ihrem Stande lag, und hauchte: »Eines Tages begegnen wir uns erneut, dann kannst Du mir den Betrag für diese Murmel überreichen.«
»Verehrte Dame, nie werde ich die Gulden aufbringen können.«
»Du irrst, denn mit der Kraft der Feen wirst Du ein reicher Mann.«
Sein Ohr spielte ihm einen Streich, sagte sie etwa reich? Sie legte ihm die Glasmurmel an. »Reich?«, fragte er sogleich. »Auf bald!«, sprach sie lächelnd und schickte ihn auf den Heimweg. Außerhalb der Stadtmauern griff er wiederkehrend an die Glasmurmel, welche von nun an seinen Hals zierte, und glaubte kaum an jene Begebenheit, die ihm wie die Erfüllung allen Glückes erschien. Unter dem Sonnenglast in Augenschein genommen, schimmerte seine Glasperle im Blau des Meeres, im Grün der Wälder und im weißen Schnee der Berge, in dem sich ein Glitzerwirbel wiederfand. Tage später hielt er wieder selbst Markt, um Gemüse und etwas Obst unter die Hungrigen zu bringen. Eine Kundin brachte nicht nur seinen Erzeugnissen, sondern auch ihm Interesse entgegen. Eine schöne Dame, dachte er bei sich, doch wohl nur ein Traumgesicht an seiner Seite. Von dieser Zeit an besuchte sie ihn oftmals, bis er den Mut fand, sie anzusprechen. Ein Händler konnte doch keine Käuferin belästigen, das gehörte sich nicht! Doch allmählich begriff er, wie sehr sie ihm ihr Interesse bezeigte. Es kam zu einem ersten, langen Spaziergang, aus dem Liebe wurde. Ihr Hab und Gut ward größer als das Seine und gemeinsam gelang es ihnen nach einer glücklichen Trauung, ein ansehnliches Geschäft zu eröffnen. Bald sollte er Vater werden und seine mittelprächtige Gesundheit wurde vortrefflich. Er erlangte mehr Reichtum als er ausgeben konnte, weshalb er, im Einverständnis mit seiner Gesponsin, viele Gulden an die Armen verteilte oder Investitionen tätigte, die den Armen zugute kamen. Denn arm, so vergaß er nie, ward er einst auch. Die Dame mit den Glasmurmeln sah der Herr über Jahre nicht, so oft er den Wochenmarkt in der Stadt auch besuchte. Doch eines Tages, da stand sie wieder da, und in einem Rausch der Freude grüßte er sie, die ihn strahlend anlächelte. »Ich erkenne Dich kaum wieder«, gab sie staunend zu verstehen. »Ein wohlhabender Mann bin ich geworden«, erklärte er ihr. »Wohl Dank der vielen Gulden in Eurer Tasche?«, fragte sie ihn dann. »Nein, die Gulden sind nicht mein Reichtum. Mein Reichtum und mein Glück ist die Glasmurmel, die ich wohl doch als Zauberperle zu bezeichnen vermag, und das dankbare Geschick, Euch begegnet zu sein.« Sie lächelte bis über beide Wangen. Er gab ihr den Betrag, den er ihr bis zu jenem Tage schuldig ward, und erstand noch weitere jener Glasmurmeln für seine Frau und seiner kleinen Tochter, welche längst das Licht der Welt erblickt. In tiefer Dankbarkeit schloss er Freundschaft zu der Dame, welche ihm seit jeher das höchste Gut ward.
___03. Januar 2021
In Gedenken an Sophie Charlotte von Preußen anlässlich ihres 352. Geburtstages vom 30. Oktober 2020.
352 Jahr´
Der Tag Eurer Ehre ist heran, so lasset mich Eurer gedenken
Nicht klagend, doch erbötig, in ewiger Dankbarkeit
Euer lang vergangenes Ableben beweinen
Nein dies liegt nicht in Eurem Sinne, so auch nicht in meinem
Doch verdienet eine Seel´ von solcherlei Schicklichkeit und sanftgesetztem Wesen
So geistreich und wohlgesetzter Worte, eine kleine Oper zuinnerster Anerkennung
Fallet der Regen über dem Schlosse, so sind es Eurer silbern´ Tränen
Scheinet die Sonne, ist sie der Spiegel, durch ihn wir Eure Augen lachen sehen
Fallet der Schnee, so tanzet Ihr elegant wie die sanft zu Boden gleitenden Flocken
Wehen die Winde, tragen sie Euren lieblich´ Sang
Stürme es, so hören wir die Töne des Klaviers auf dem Ihr spielet
herrliches Klangspiel, vorgetragen von den Wipfeln der Bäume
Breitet ein Regenbogen sich aus über der Charlottenburg,
so haltet Ihr im Himmel Maskenball
Von Eurem Anmute umflossen, liebllich sinnend in Hochgefühlen schwelgend
Lustwandle ich immerfort auf den Pfaden der Vergangenheit
Euren behendigen Worten lauschend,
Euren ausgelassenen Saturnalien mit meinen Augen folgend
Entzünde ich eine Kerze, diese Euch zu den Wolken zu schicken
Auf ewig gesegnet sein mag Eure Seel´
Ewig brennen möge jene Kerze
Dreihundertzweiundfünfzig Jahr´
unvergessen, unsere Sophie Charlotte, erste Königin von Preußen